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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

377-378

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Pilvousek, Josef

Titel/Untertitel:

Die katholische Kirche in der DDR. Beiträge zur Kirchengeschichte Mitteldeutschlands.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag 2014. 457 S. Kart. EUR 39,80. ISBN 978-3-402-13090-2.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Noch während seines Studienaufenthalts in Rom 1989 wurde der Erfurter Kirchenhistoriker Josef Pilvousek beauftragt, sich angesichts des politischen Umbruchs um die Akten der Berliner Bi­schofskonferenz zu kümmern (377 f.). Er war somit von Anfang an verantwortlich beteiligt an der Sicherung der Überlieferung und der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit der katholischen Kirche. Aus seinen zahlreichen Beiträgen auf der Grundlage archivalischer Quellen zur Geschichte seiner Kirche in der DDR, die häufig an entlegener Stelle veröffentlicht wurden, hat er auf Wunsch von Freunden und Kollegen nach der Emeritierung 2013 die wichtigsten (teilweise ergänzt und korrigiert) in dem Sammelband zugänglich gemacht.
Der Überblick »Von der ›Flüchtlingskirche‹ zur katholischen Kirche in der DDR« ist der Gliederung in sechs thematische Gruppen einführend vorangestellt: 1. »Heimatvertriebene und Flüchtlinge« (Hedwigverehrung als Mittlerin zwischen Deutschen und Polen, Gottesdiensträume und Seelsorger für Flüchtlinge, Abgewanderten- Seelsorge des Erzbistums Köln in Thüringen 1943–1945, katholische Gottesdienste in evangelischen Kirchen in Thüringen). 2. »Biografien« (die Bischöfe Heinrich Wienken, Otto Spülbeck, Gerhard Schaffran, Joseph Freusberg, bischöfliches Leitbild Alfred Bengsch/Joachim Wanke, Georg Sterzinski, Propst Josef Streb, Prof. Erich Kleineidam). 3. »Wallfahrten« (Elisabethwallfahrt 1957, Elisabethjubiläum 1981). 4. »Kirchliches Leben im totalitären Staat« (sechs Beiträge über die Vorgeschichte der Ostdeutschen Bischofskonferenz, die vatikanische Ostpolitik, die Schwierigkeiten mit der diözesanen Verwandtschaft von Fulda und Erfurt 1929–1994, die Caritas in der DDR, die zentralisierte bischöfliche Kirchenführung in der DDR und zur Geschichte des bischöflichen Heiligenstädter Knabenseminars). 5. »Konzil und Konzilsrezeptio n/Synode« (zwei Beiträge zum Zweiten Vatikanischen Konzil). 6. »Politischer und gesellschaftlicher Umbruch und die Folgen« (vier Beiträge zur historischen Aufarbeitung zur Stellung der katholischen Kirche, Bischöfe und Friedliche Revolution, Religion und Diktatur 1945–1989 sowie zur Integration der Theologischen Fakultät in die Universität Erfurt).
In den 27 Beiträgen ist P. bemüht, den schwierigen Weg von der Flüchtlingskirche zur katholischen Kirche in der DDR unter den besonderen Bedingungen einer »doppelten Diaspora«, konfessionell und gesellschaftlich (339), sorgfältig und quellennah »untersuchend zu betrachten« (411). Reibflächen und Konflikte werden nicht verschwiegen, weder bei dem unterschiedlichen Verständnis der Situation (Westkamp: Gärtnerei im Norden, Spülbeck: Fremdes Haus, Bengsch: Löwengrube, Wanke: Nicht Los, sondern Heimat) noch bei der Prägung des Führungspersonals. Am deutlichsten werden die ambivalenten kirchenpolitischen Aktivitäten des Hei­- ligenstädter Propstes Streb (Gratwanderung von Diplomatie und Selbstbewusstsein) benannt. Das Festhalten am traditionellen hierarchischen Prinzip durch Kardinal Bengsch statt einer flexibleren Praxis im Gefälle des Zweiten Vatikanischen Konzils (Pastoralkonstitution »Gaudium et spes«, Meißner Diözesansynode 1969–1971, Pastoralsynode 1973–1975, partnerschaftliche Mitverant-wortung) kommt ebenfalls zur Sprache. Gleichfalls werden Schwie­rigkeiten, wenn in Thüringen oder in der Kirchenprovinz Sachsen evangelische Kirchen für katholische Gottesdienste zur Verfügung gestellt werden mussten, nicht völlig übergangen. Es wird gewürdigt, dass alle Landeskirchen Gastfreundschaft boten, doch auch angemerkt, dass nicht in allen »die gleiche vornehme Hochherzigkeit« herrschte (82). Die Formulierung zeigt an, dass der Sprachduktus der offiziellen kirchlichen Beschlüsse und Verlautbarungen nicht ohne Einfluss auf die Darstellung P.s geblieben ist. Unübersehbar ist das, wenn in Zusammenhang mit bischöflichen Meinungen davon die Rede ist, dass Äußerungen nicht offiziell oder amtlich »ins Wort gehoben« worden seien (288, vgl. auch 135).
Im Licht dieser Beobachtung ergeben sich Fragen zum Titel des Sammelbandes. Er trifft auf den Inhalt nur unter der Voraussetzung der traditionellen vorkonziliaren katholischen Ekklesiologie zu, denn in Wirklichkeit konzentrieren sich die Beiträge vor allem auf das Wirken der Bischöfe und deren Probleme, angesichts der politischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit in der DDR. Bei den Biographien illustriert das bereits die Auswahl der Porträtierten. Der mühsame Weg von der Flüchtlingskirche zur eigenständigen Kirche in dem neuen Staat wird auch nahezu ausschließlich aus der Sicht der leitenden geistlichen Verantwortlichen (Verhandlungen, Organisation) geschildert. Dadurch wird z. B. die ablehnende Haltung des DC-Präsidenten in Eisenach Hugo Rönck 1944 zweimal erwähnt (70 f.77 f.), die Reaktionen auf Gemeindeebene in Thüringen bleiben unerwähnt. Deutlicher noch ist die Dominanz der Leitungsebene in den Wallfahrtsbeiträgen, die sich in den weiteren thematischen Schwerpunkten fortsetzt. Selbst unter der Überschrift »Kirchliches Leben im totalitären Staat« spielt die Ge­meindeebene so gut wie keine Rolle. Damit bleibt die vielfältige ökumenische Partnerschaft, die durch die gemeinsame kirchenpolitische Situation erleichtert wurde (Jugend- und Studentenarbeit, Trauungen, Feuerbestattungen, Gastteilnahme an Pfarrkonferenzen u. Ä.), und damit auch ein Stück kirchlicher Realität unbeachtet. Durch die Konzentration auf die Leitungsebene kann aber P. auch eindrucksvoll den beträchtlichen Anteil der herkömmlichen hierarchischen Strukturen und der charakterlichen Anlagen der Amtsträger an der Gestaltung der kirchlichen Wirklichkeit aufzeigen.
Die Erstveröffentlichungen der Beiträge werden anhangsweise nachgewiesen. Auf Abkürzungsverzeichnis und Register ist leider verzichtet worden, auf Verweise ebenfalls. Dadurch bleiben Wiederholungen nicht aus, besonders bei den Biogrammen (339.343 u. ö.). Die Darstellung der katholischen Kirche in der DDR, in der auch die Gemeindewirklichkeit berücksichtigt wird, steht noch aus. Von dieser Einschränkung abgesehen hat P. eine informative und instruktive Darstellung vorgelegt, die durch ihre Quellenkenntnis und ihren Zeitzeugengehalt wichtig ist und lange bleiben wird.