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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

372-376

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Große Kracht, Hermann-Josef, u. Klaus Große Kracht [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religion – Recht – Republik. Studien zu Ernst-Wolfgang Böckenförde.

Verlag:

Paderborn u. a.: Verlag Ferdinand Schöningh 2014. 209 S. Kart. EUR 28,90. ISBN 978-3-506-76611-3.

Rezensent:

Horst Dreier

Am 19. September 2010 vollendete Ernst-Wolfgang Böckenförde sein 80. Lebensjahr. Aus diesem Anlass veranstalteten die beiden Herausgeber einen Monat später am Exzellenzcluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne« der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster ein Symposion un­ter Mitwirkung des Jubilars, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist. Böckenförde erfährt eine durchweg faire, stets sehr respektvolle und anerkennende, nur zuweilen und in eher homöopathischen Dosen auch kritische Würdigung. Obwohl Historiker, Theologen, Rechtswissenschaftler und Politologen zu ihm beigetragen haben, erhebt der Band nicht den Anspruch, »sämtlichen Facetten Böckenfördes gerecht zu werden« (8), was sich von selbst verstehe. In der Tat ist das Œuvre des hier durchgängig als »public intellectual« (7.42.70.121) charakterisierten Autors zu vielschichtig, um es in einem mit rund 200 Seiten noch gut lesbaren Band erfassen zu können. Umso erfreulicher erscheint, dass insbesondere sein – längst nicht mehr allen potentiellen Lesern geläufiges – Frühwerk und damit die »formative Phase seiner intellektuellen Biographie« (12) eine intensive Betrachtung erfährt: also seine erste wissenschaftliche Publikation überhaupt, eine 1957 in der Zeitschrift »Hochland« veröffentlichte kritische Analyse der katholischen Naturrechtslehre (Das Ethos der modernen Demokratie und die Kirche) sowie die vier Jahre später im gleichen Organ erschienene »kritische Betrachtung« (so der Untertitel) zur Rolle des deutschen Katholizismus im Jahre 1933. Mit beiden Beiträgen hat er Kontroversen von einer Schärfe ausgelöst, im Vergleich zu denen manche heutige Debatten als relativ müde Wortwechsel erscheinen müssen. Die Bedeutung beider Schriften wird am intensivsten in dem instruktiven Beitrag von Mark Edward Ruff, einem Historiker aus St. Louis/Missouri, herausgearbeitet. Böckenförde habe mit seinen Themen nicht lediglich »einen wunden Punkt berührt« (41), sondern mehr noch: »Durch seine kirchenpolitischen Schriften katalysierte er ein Umdenken innerhalb der deutschen katholischen intellektuellen Elite« (42). Das ist in langfristiger Perspektive gewiss richtig. Freilich war der Gegenwind von Seiten der etablierten Amtskirche sowie zahlreicher Professoren unterschiedlicher Disziplinen – darunter Hans Peters, seinerzeit Präsident der Görres-Gesellschaft – zunächst ein besonders heftiger. Vor allem auf den zweiten Aufsatz zur Kirche im Jahr 1933, von einem anderen Autor des Bandes als »der eigentliche Schlüsseltext seines Gesamtwerkes« eingestuft ( Christoph Schönberger, 128), war die publizistische Resonanz gewaltig – allerdings, wie Böckenförde selbst ein Jahr später in einer Stellungnahme nüchtern festhielt, »ganz überwiegend ab­lehnend«. Die biographischen wie politischen Hintergründe von Böckenfördes kritischer Haltung sowie ihrer selbstbewussten, ja fast stur zu nennenden, jedenfalls niemals wankelmütigen Verteidigung legt Ruff in anschaulicher und detaillierter Weise dar.
Von maßgeblicher Bedeutung ist Böckenfördes Kritik an der politischen Instrumentalisierung des katholischen Naturrechts im Allgemeinen (vgl. dazu auch 202) und seine Verärgerung über die Wahlhirtenbriefe im Besonderen, die es für unmöglich erklärten, als Katholik sozialdemokratisch zu wählen; hinzu trat die frühe Kontaktaufnahme mit Adolf Arndt, der ihn offenbar tief beeindruckte. Entscheidend war aber letztlich der analytisch klare, von Parteinahme ungetrübte, in gewisser Weise schonungslose Blick auf die Verhältnisse des Jahres 1933, darunter die von ihm herausgestellte »innere Affinität der katholischen Kirche zu autoritären Regierungen«, solange diese die Kirche unbehelligt lassen, sowie die »tödliche Versuchung« für die katholische Kirche speziell in Deutschland, mit den neuen Machthabern das ersehnte Reichskonkordat abzuschließen. Kardinal Faulhaber dankte Hitler seinerzeit mit den Worten: »Was die alten Parlamente und Parteien in sechzig Jahren nicht fertigbrachten, hat Ihr staatsmännischer Weitblick in sechs Monaten weltgeschichtlich verwirklicht« (59). Diese und vergleichbare Zitate dokumentierte Böckenförde in seinem Hochland-Aufsatz zuhauf, was zu einem wahren »Aufschrei« (63) führte.
Vor dem Hintergrund dieser frühen Positionierung Böckenfördes kann nicht überraschen, dass er den inneren Modernisierungsprozess der katholischen Kirche, wie er im II. Vaticanum zutage trat, geradezu emphatisch begrüßte. Seine »Treue zum Konzil« ist zu Recht als »wichtige Konstante auf seinem intellektuellen Weg« bezeichnet worden (Christoph Möllers, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 [2010], 107 ff. [109]). Besonders prominent wurde Böckenfördes Deutung der Erklärung des Konzils zur Religionsfreiheit aus dem Jahre 1965, die er als »kopernikanische Wende« der bisherigen offiziellen Position der katholischen Kirche einordnete. In dem diesbezüglichen Beitrag von Karl Gabriel und Christian Spieß (77 ff.) wird Böckenfördes schonungslose Kritik an der scholastischen, neuthomistischen Schultheologie herausgearbeitet, die nicht das unbedingte Freiheitsrecht eines jeden Menschen auf seine Glaubens-, Meinungs- und Redefreiheit, sondern lediglich das Recht der (von den kirchlichen Institutionen zu erkundenden und zu verkündenden) Wahrheit anerkannte: keine Freiheit für den Irrtum! Diese Position habe Böckenförde zufolge mit einem klaren Traditionsbruch überwunden werden müssen. Hier fragen die beiden Autoren mit leiser, aber vernehmlicher Kritik, ob der Jubilar nicht aufgrund eines etwas selektiven Blickes auf die Schultheologie und die bekannten Verurteilungen der modernen Menschenrechtserklärungen durch die Päpste des 18. und 19. Jh.s eine Engführung vornehme, so dass ihm innerkirchliche Vorläufer in Gestalt anderer naturrechtlicher Positionen verborgen blieben, die den von ihm allein auf säkulare Kräfte und eine Wende des Lehramts zurückgeführten Durchbruch möglicherweise mitbedingten (84 ff.).
Wenn in einem Beitrag fast beiläufig davon gesprochen wird, Böckenfördes Hochland-Aufsatz von 1961 sei »von einem aufklärerischen Impetus« getragen (60), so verweist das auch auf seine Zugehörigkeit zu einer Alterskohorte, für die Helmut Schelsky einst den Begriff der »skeptischen« Generation prägte. Bei diesen Altersgenossen handelte es sich etwa um Martin Broszat, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Rudolf Morsey oder Kurt Sontheimer (u. a. dazu der einleitende Beitrag von Klaus Große Kracht, Unterwegs zum Staat. Ernst-Wolfgang Böckenfördes Weg durch die intellektuelle Topographie der frühen Bundesrepublik, 1949–1964, 11 ff.). Einige von ihnen gehörten auch jenem Intellektuellenzirkel in Münster an, dem Böckenförde als heranreifender Wissenschaftler wohl die meis­te Anregung und die größte geistige Stimulation verdankte: dem interdisziplinär zusammengesetzten und durch eine sehr offene Atmosphäre geprägten Collegium Philosophicum unter der Leitung von Joachim Ritter. Zu den regelmäßigen Teilnehmern zählten etwa Karfried Gründer, Martin Kriele oder Robert Spaemann. Ritter selbst hatte 1957 im Anschluss an einen eigenen Vortrag ausgeführt, der Staat bleibe darauf angewiesen, »daß die In-dividuen selber die geschichtlichen Ordnungen wahren, daß sie die Freiheit, die die Gesellschaft freigibt und der ›sittliche Staat‹ sichert, mit substanziellem Leben erfüllen« (29). Klaus Große Kracht sieht hierin durchaus zu Recht eine Art Frühform des sogenannten Böckenförde-Diktums oder Böckenförde-Theorems.
Damit ist jene Sentenz aus seinem zuerst in der Festschrift für Ernst Forsthoff aus dem Jahre 1967 publizierten – auf einem bereits drei Jahre zuvor in dessen Ebracher Seminar gehaltenem Vortrag beruhenden – Aufsatz über »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation« angesprochen, die in ihrer nunmehr 50-jährigen Geschichte »in Presse und Publizistik, in Universitäten und Akademien seit langem atemberaubende Zitationserfolge« er­zielt hat und »längst zur meistzitierten Bekenntnisformel der politischen Kultur der Bundesrepublik geworden« ist ( Hermann-Josef Große Kracht, Fünfzig Jahre Böckenförde-Theorem, 155 ff. [155]). Die Sentenz lautet bekanntlich: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.« Hermann-Josef Große Kracht rekapituliert die durchaus unterschiedliche Rezeptionsgeschichte des Theorems und resümiert zunächst die Grundwerte-Debatte der 1970er Jahre, die unter maßgeblicher Beteiligung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt (für den Böckenförde partiell als eine Art Ghostwriter fungierte, vgl. 161) geführt wurde. Das Diktum wurde hier also gegen die offizielle Position der katholischen Kirche in Stellung gebracht, die gerade mit Blick auf anstehende Reformen im Familienrecht und im Sexualstrafrecht vom Staat verlangt hatte, sich auch gegen breite Strömungen in der Gesellschaft zu stellen, weil bestimmte »Grundwerte« unverfügbar seien. In vorzüglicher Sondierung der jeweiligen Diskurslandschaften und gesellschaftspolitischer Frontlinien führt Hermann-Josef Große Kracht sodann plastisch vor Augen, wie das Diktum zwei Jahrzehnte später in der Berliner Republik ganz anders (miss-)interpretiert und instrumentalisiert wurde, nämlich nunmehr als Begründung für eine positive Wertung der Rolle der Religion im Allgemeinen und einer privilegierten Stellung der christlichen Kirche im Besonderen. Dem Diktum wurde unterstellt, »es wolle vor allem die christlich-abendländische Religion und Moral als für den Staat der Bundesrepublik unverzichtbare Grundlage des Politischen in Stellung bringen« (167). Hermann-Josef Große Kracht spricht insofern treffend von der »restaurativen Verkürzung des Böckenförde-Theorems« (171). An diese kritische Lesart knüpft der Beitrag von Chris-tian Walter an (Das Böckenförde-Diktum und die Herausforderungen des modernen Religionsverfassungsrechts, 185 ff.), der aufzeigt, wie der ursprünglich analytisch-deskriptiv konzipierte Satz Bö-ckenfördes von einigen Vertretern zu einer normativen Verpflichtung für den Staat ausgedeutet wurde, die (vermeintlich) staatstragende, Gemeinschaftsressourcen generierende und insofern nützliche christliche Kirche insbesondere finanziell zu unterstützen – eine utilitaristische Vorstellung, bei der es dem Jubilar unweigerlich graust, wie man seinen einschlägigen Stellungnahmen un­schwer entnehmen kann. Walter hält zudem fest, dass weder die Religion eine Garantiefunktion für den Bestand des freiheitlichen Staates übernehmen noch umgekehrt der Staat Lebenskraft und Fortbestand der Religionen sichern kann – er vermag nur entsprechende Freiheitsangebote zu unterbreiten. Im Übrigen plädiert Walter in zustimmungswürdiger Weise gegen alle Versuche, bei der staatlichen Behandlung von Religionen nach deren unterschiedlicher Zuträglichkeit für das freiheitliche Gemeinwesen zu differenzieren oder sonstige Kulturvorbehalte einzuführen.
Zu den vielen Facetten Böckenfördes als Sozialdemokrat und Katholik, als öffentlicher Intellektueller und als Hochschullehrer, als »Schüler« Carl Schmitts und Rechtsphilosoph gehört auch seine zwölfjährige Tätigkeit als Richter des Bundesverfassungsgerichts. Christoph Schönbergers Beitrag mit dem hintergründig-ironischen Titel »Der Indian Summer eines liberalen Etatismus« schält eindringlich die durchaus kritisch-distanzierte Haltung des (insofern ganz offenkundig von Carl Schmitt beeinflussten) Verfassungstheoretikers Böckenförde zur Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit heraus, die ihm nach Herkunft und Prägung »eher Problem als Aufgabe« war (124). Das hinderte ihn freilich nicht, als höchst einflussreiches Mitglied des Zweiten Senats zu fungieren und bei mehreren gewichtigen Entscheidungen die wissenschaftlich favorisierte Linie einer weitgehenden Beschränkung der justiziellen Kontrolle des parlamentarischen Gesetzgebers zugunsten einer höchst politischen, dem Parlament die Rechtsnormen praktisch in die Feder diktierenden Judikatur zu verlassen, wie man namentlich bei der (zweiten) Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch sehen konnte (130 f.).
Der wohlproportionierte und hochinformative Band, in dem sich noch einige persönliche Erinnerungen von Franz-Xaver Kaufmann (199 ff.) sowie Rekapitulationen von Böckenfördes ausgesprochen vatikannaher bioethischer Position (Tine Stein, 137 ff.) und seiner erstaunlich heftigen Kapitalismuskritik (Hermann-Josef Große Kracht, 91 ff.) finden, verdient insgesamt großes Lob und das uneingeschränkte Prädikat: sehr lesenswert!