Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2016

Spalte:

371-372

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Wenzel, Gerhard

Titel/Untertitel:

Das diakonische Engagement der Hugenotten in Frankreich – von der Reformation bis 1685. Diakonie zwischen Ohnmacht, Macht und Bemächtigung.

Verlag:

Göttingen: V & R unipress 2013. 358 S. Geb. EUR 50,00. ISBN 978-3-8471-0212-0.

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die Arbeit von Gerhard Wenzel bietet erstmals einen sachkundigen, materialreichen und Detailfragen klärenden Überblick zur Ge­schichte diakonischer Praxis und deren theologie- und geistesgeschichtlicher Hintergründe im französischen Protestantismus bis zur Aufhebung des Edikts von Nantes 1685. Die Studie präsentiert sich als ausgegliederter Teil einer zu umfänglich geratenen, noch bei G. Brakelmann begonnenen Promotion, die sich nun sinnvollerweise auf die Ge­schichte des diakonischen Engagements der Hugenotten in Berlin (1672–1772) beschränken und später veröffentlicht werden soll (zu­letzt betreut von U. Gause, Bochum).
Nach einführenden historiographischen Erörterungen, welche die Bezüge der Diakoniegeschichte zu einer breiten Palette von übergreifenden Fragestellungen und Forschungsansätzen demonstriert (von der Minderheiten- und Armutsforschung bis zur Alltagsgeschichte und zum Konfessionalisierungsparadigma), und methodischen Vorüberlegungen folgt die Darstellung der diakonischen Praxis, plausibel in drei Phasen eingeteilt. Die erste wird als »klandestine Etablierung und Konsolidierung« bis in die 1590er Jahre charakterisiert. Typisch für diese Zeitspanne war die kirchengemeindlich getragene ambulante Armen-, Kranken- und Waisenunterstützung. Dabei spielte das von M. Bucer in Straßburg eingeführte, dort von der französisch-protestantischen Flüchtlingsgemeinde (unter J. Calvin) übernommene und bald auch von den neugegründeten protestantischen Gemeinden in Frankreich aufgegriffene Amt des Diakons eine Schlüsselrolle. Zur vollen Entfaltung kam das Amt freilich erst in der diakonischen Praxis des französischen Reformiertentums, und dies in seinen Facetten und Besonderheiten zu verdeutlichen, ist eine zentrale Zielsetzung der Arbeit. Calvins direkter Einfluss auf die Neubewertung des Diakonenamtes sollte dabei nicht überbewertet und die Rolle der frühen Exilgemeinden nicht unterschätzt werden.
Die zweite Phase (bis 1660) gilt als Blütezeit diakonischer Praxis, ermöglicht durch das Edikt von Nantes. Anschaulich wird unter anderem geschildert, wie die konfessionelle Konkurrenz das soziale Engagement von Protestanten und Katholiken beflügelte. Die Zunahme der Legate sorgte auf protestantischer Seite für die nötigen finanziellen Ressourcen. In der Praxis folgte man der weitsichtigen Devise »Arbeit statt Bettel«. Arme wurden mit Krediten zum Aufbau einer Existenz versorgt, man vermittelte Lehrstellen und verbesserte die Bildungschancen für Jungen und Mädchen durch den Ausbau des Schulwesens. Diakone, welchen die Pflicht zur Betreuung armer Kinder und deren Eltern oblag, schlugen die Brücke zwischen Diakonie- und Schulwesen.
Zuweilen wirkten Diakone sogar im Elementarschulunterricht mit. Weiterhin nutzte man die neuen Mitgestaltungsmöglichkeiten im öffentlichen Hospitalwesen, das Kranke und Arme beider Konfessionen versorgte und den konfessionellen Gegensatz vor Ort entschärfen konnte. Erstmals kam es nun trotz offiziellem Verbot zur Gründung protestantischer gemeindeeigener oder privater Hospitäler und Armenhäuser. Diese boten eine stationäre Ergänzung zur ambulanten Kranken- und Armenversorgung. In der dritten Phase, in welcher das diakonische Engagement der Protestanten erneut auf Restriktionen und Repressionen stieß (1661–1685) und die »langsame Erstickung« des französischen Protestantismus ihren Lauf nahm, wurden diese Ansätze freier Entfaltung wieder zerstört. Selbst die ambulanten Aktivitäten wurden nun in den klandestinen Bereich abgedrängt, mit befördert durch obrigkeitliche Berufsverbote und den Einzug von Gemeindevermögen einschließlich der Armengelder. Manches aus dem Bereich diakonischer Aktivitäten lebte in den Gemeinden der hugenottischen Refuge weiter, bis hin zur stationären Armen- und Krankenfürsorge.
Der dritte Hauptteil der Arbeit widmet sich im Überblick den theologischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhängen. Zu­nächst wird zusammenfassend auf Calvin und dessen Arbeits- und Berufsethik sowie seine Ansichten zu Reichtum und Armut eingegangen. Auch die Frage von Prädestination und Providenz im sozialethischen Kontext kommt zur Sprache. Diese Horizonte werden im Blick auf die sozialethischen Positionen in den Akademien von Sedan und Saumur weiterverfolgt, verbunden mit Rekursen auf M. Webers Kapitalismusthese, für die sich ganz offensichtlich im französischen Kontext keine Bestätigung findet. Stets wurde die Sozialverpflichtung des Eigentums betont, abgeleitet vom Ge­meinde- bzw. Gemeinschaftsgedanken und der Pflicht zur Nächstenliebe. Wichtig ist, dass auch die Predigtliteratur als Spiegel diakonischen Selbstverständnisses und der Ansichten von Reichtum und Armut herangezogen wird. Ein kurzes Zwischenkapitel (4) versucht, das komplexe Verhältnis zwischen diakonischer Praxis und den theologischen und geistesgeschichtlichen Hintergründen zu bündeln.
Schließlich folgt noch ein Kapitel »Streiflichter«, das in einer Art Anhang die Merkmale diakonischer Praxis der frühen hugenottischen Flüchtlingsgemeinden in Frankfurt am Main und Emden be­spricht. Man hat den Eindruck, dass die Arbeit schwer zu einem konkludierenden Ende findet. Wünschenswert wäre gewesen, die vielfältigen Fäden der Arbeit in einem sorgfältigen Schlusskapitel zu ordnen und übersichtlich auszuwerten. Dies hätte mit manchen Unschärfen, einerseits behaupteten, dann wieder (zu Recht) relativierten Zuspitzungen (»das Sein prägt das Bewusstsein«), Wiederholungen und Überschneidungen versöhnt und die an sich durchaus schätzenswerte »ruhrgebietlerische Erdverbundenheit« (9) produktiver machen können. Die Hauptlinien bleiben freilich deutlich: wie die Hugenotten als verfolgte Minderheit im An­schluss an frühe Exilgemeinden des 16. Jh. ein theologisch reflektiertes und kontextuell flexibles Modell von Gemeindediakonie entwickelten, das sich so in anderen konfessionellen Kontexten nicht findet. Die diakonischen Aktivitäten waren, so wird zu Recht herausgearbeitet, spezifischer Teil der hugenottischen Überlebensstrategie, boten aber zugleich konkrete Alternativen zur ge­sellschaftlichen Ausgrenzung vieler Armer, bis die obrigkeitlichen Zwangszugriffe dem ein Ende setzten. Es bleibt zu hoffen, dass diese für die Hugenotten- und Diakoniegeschichte des 16. und 17. Jh.s wichtige Arbeit auch die komparative Erforschung des konfessionskulturellen Umgangs mit dem Problem der Armut weiter voranbringt.
Für die zu erwartende (Anschluss-)Geschichte des diakonischen Engagements der Hugenotten in Berlin ist jedenfalls ausreichend Vorarbeit geleistet, man wird auf deren Erträge gespannt sein dürfen. Gerne würde man dann aber auch von den üblichen Registern Gebrauch machen, die bei der vorliegenden Arbeit leider fehlen.