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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

363-365

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Luther, Susanne, Röder, Jörg, u. Eckart D. Schmidt[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wie Geschichten Geschichte schreiben. Frühchristliche Literatur zwischen Faktualität und Fiktionalität.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VI, 452 S. = Wissenschaftliche Untersuchungen zum NT. 2. Reihe, 395. Kart. EUR 94,00. ISBN 978-3-16-152634-3.

Rezensent:

Knut Backhaus

Die Exegese hat in jüngerer Zeit wichtige Impulse aus dem »linguistic turn«, dem New Historicism und der literaturwissenschaftlichen Fiktionalitätsdebatte empfangen. Die Perspektiven bedingen einander: Wo alles Sprache wird, entgleitet die extratextuelle Referenz; man fragt sich, was man am Erzähltext hat – und entdeckt neue Referenzen! Der interdisziplinär angelegte Sammelband geht auf eine diesem Zusammenhang gewidmete Tagung der Arbeitsgemeinschaft der neutestamentlichen Assistentinnen und Assistenten zurück.
Die drei ersten Aufsätze dienen der theoretischen Grundlegung: Der Vergleichende Literaturwissenschaftler Frank Zipfel problematisiert die unbeschränkte Herrschaft des Paradigmas »Fiktion« und unterscheidet zwischen der Bestreitung von »Wirklichkeit« als ontologischer Position und der Fiktionalität literarischer Texte, die sich deutend in Beziehung zur vorfindlichen Lebenswelt setzen. Er schlägt eine kommunikationstheoretische Zugangsweise vor, die den sozial institutionalisierten Fiktionalitätsvertrag zwischen Autor und Adressaten in den Blick nimmt. Die Anglizistin Vera Nünning schließt hieran an, denn ihr Thema, das »(un)zuverlässige Erzählen«, betrifft die Akzeptanz des narrativen Kommunikationsangebots. Ungeachtet der Hybridisierung fiktiver und dokumentarischer Welten pflegt der Leser unterschiedliche Maßstäbe an Referenzleistung und Sinnstiftung anzulegen. Jörg Röder wendet sich den Implikationen des Fiktionalitätsdiskurses für die neutes­tamentliche Exegese zu. Anknüpfend an die aristotelische Un­terscheidung zwischen Geschichtsschreibung als Darstellung des konkreten Faktums und Dichtung als Aufhellung des Sinnpoten-tials, plädiert er dafür, den theologischen Wahrheitsanspruch in einem Kontinuum anzusiedeln, in dem referentiell Wirklichkeit beschrieben wird, deren umfassendes Sinnpotential sich indes ge­rade im fiktionalen Modus erschließt. Röder greift die Anregung Nünnings auf, die Eigenart religiösen Erzählens zwischen Darstellung und Deutung von Geschichte prägnanter zu beschreiben. Der Beitrag ist jedem, der sich einen verlässlichen Überblick über die Debatte verschaffen möchte, sehr zu empfehlen.
Die folgenden Beiträge erproben die Neujustierung an konkretem Textgut. Olaf Rölver zeigt die bedeutungsgenerierende Funktion des biblischen Prä- und Subtextes für die Fiktionsbildung des Mt: Die Faktizität der Heiligen Schrift prägt jene vorgängige Weltwahrnehmung, die den Verstehenshorizont und damit auch den Fiktionalitätsrahmen des Jesus-Narrativs festlegt. Ganz in diesem Sinn weist Felix Albrecht die christologische Bedeutsamkeit der (naheliegenden) Fiktion vom bethlehemitischen Kindermord auf. Thomas Schumacher versucht eine symbolsprachliche Deutung der markinischen Darstellung der Taufe Jesu, die sich vor allem der Relecture erschließe: Das Taufgeschehen werde im Sinn von Röm 6 als Hinweis auf Jesu Sterben und Auferstehen wahrnehmbar. Philologisch auf schmalem Grat wandernd, hat mich die Darlegung, trotz anregender Beobachtungen zur nachösterlichen Lektüreperspektive, noch nicht überzeugt. Susanne Luther unterscheidet zwischen Fiktivität als eingebundener Erzählqualität und dem übergeordneten generischen Textzusammenhang, der faktualen Anspruch stellen kann. Antike Geschichtsschreibung arbeitet auch mit fiktionalen Strategien, die aber – wie sich am Beispiel der lukanischen Gleichnisse zeigt – den grundsätzlichen Bezug des Großtextes zur Lebenswelt der Leser nicht verstellen, sondern ausspiegeln.
Bevorzugter Topos von Referentialität ist die Augenzeugenschaft. Ruben Zimmermann untersucht ihn mit überzeugender Nüchternheit: Auch die Autopsie sowie die mit ihr verbundene Narration führen nicht auf den Wahrheitsgrund, sondern in konstruierte Welten, welche eigenen Gesetzen folgen, die mittlerweile empirisch und hermeneutisch eingehender erforscht sind, als es die unbefangene Argumentationsfigur »ipse vidit« vermuten lässt. Freilich kann man diese Welten selbst betreten, um dort auf eine Wahrheitsansicht eigener Art zu treffen. Wie Zimmermann am Beispiel des Geliebten Jüngers vorführt, leiten die Motive von »Sehen« und »Zeugnis« im Vierten Evangelium zum Verstehen bedeutsamer Vergangenheit an. Dem Motiv des Geliebten Jüngers als Beispiel für kanonische Fiktionalität wendet sich auch der unkonzentriert wirkende Beitrag von Paul Metzger zu: Die Heilige Schrift werde aufgrund ihrer Orientierungsleistung gelesen und leite daher ihren Glaubensanspruch nicht aus den historischen Entstehungsumständen ab. Nils Neumann zeigt mit Blick auf die Anleitungen von Quintilian und Ailios Theon die rhetorische Veranschaulichungs- und Vergegenwärtigungsstrategie auf, die den Schiffbruch des Paulus (Apg 27) zu einer »Ekphrasis des Heils« werden lässt und so durch narrative Fiktion theologische Wirklichkeit erschließt. Der sorgfältige Aufsatz ließe sich weiterführen: Die Ekphrasis der poetica tempestas galt in lukanischer Zeit bereits als recht abgenutzt, aber Lukas bedient sich gerade der Konvention, um durch eigene Akzentsetzung die theologischen Spezifika herauszuheben. Wie Loveday Alexander gezeigt hat, veranschaulicht die Schiffbruchsszene nicht nur das »Heil«, sondern den Übergang in den paganen Kultur- und Erzählraum. Sandra Hübenthal liest 2Thess und Kol konsequent als fiktive Kommunikation. Die vermutete Ereignisgeschichte tritt hinter jene Erfahrung zurück, auf die die Fiktion eine Antwort ist. Die Pseudepigraphen werden statt als Fenster in die Pauluswelt als Spiegel der Leserwelt lesbar. Wenig innovativ zeigt Peter-Ben Smit, dass Tit die Paulustradition kreativ-fingierend fortschreibt, um Leitungsprobleme zu lösen.
Mit Martin Bauspieß schließt sich der Kreis zu den ersten Beiträgen. Er begründet die Unterscheidung zwischen faktualem und fiktionalem Lektüreanspruch mit der kommunikativen Textpragmatik: Der Historiograph verständigt sich mit seinen Adressaten, ungeachtet der fiktionalen Darstellungsanteile, auf die extratextuelle Welt. Anfechtbar scheint mir Bauspieß’ Annahme, dass die neutes­-tamentliche Erzählliteratur angesichts ihrer Distanzlosigkeit zum Gegenstand die historiographische Textpragmatik vermissen lasse. Dies gilt jedenfalls kaum für die apologetische Ge­schichtsschreibung als einer biblisch-jüdisch inspirierten Form dessen, was man mit Jan Assmann »heiße Erinnerung« nennen mag. Eckart D. Schmidt beleuchtet abschließend Thomas Jeffersons »Leben Jesu«-Versuche – ein hochprojektives Narrativ, dessen Referenz nicht in das Galiläa des 1. Jh.s führt, wohl aber zu den Idealen der Aufklärung.
Im Ganzen lassen die Aufsätze vier Tendenzen hervortreten: (a) Erkenntnistheoretisch herrscht Bescheidenheit: Wahrheit und extratextuelle Referenz werden sorgsam unterschieden. (b) Der Unterschied zwischen Faktualität und Fiktionalität – von den einen bipolar, von den anderen als Fluidum beschrieben – wird unter textpragmatischem Gesichtspunkt rehabilitiert. (c) Die literarische Fiktion – auch in Geschichtstexten – wird theologisch akzeptiert und gewürdigt. (d) Die literaturwissenschaftliche Perspektive wird schöpferisch aufgenommen, ohne dass die spezifische Sinnleistung religiösen Erzählens aus dem Blick gerät. Wenn dieser Band das Reflexionsniveau des exegetischen »Mittelbaus« repräsentiert, darf man das Fach glücklich schätzen.