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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

359-361

Kategorie:

Autor/Hrsg.:

Heyden, Wichard von

Titel/Untertitel:

Doketismus und Inkarnation. Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie.

Verlag:

Tübingen: Francke Verlag 2014. XIV, 553 S. = Texte und Arbeiten zum neutestamentlichen Zeitalter, 58. Kart. EUR 88,00. ISBN 978-3-7720-8524-6.

Rezensent:

Ekkehard Mühlenberg

Wichard von Heyden hat eine ambitiöse Dissertation geschrieben, betreut von Klaus Berger und mit dessen Ideen unterlegt. Es sollen, wie Titel und Untertitel klar angeben, die Vorstellungen von Inkarnation und Doketismus im frühesten Christentum geklärt werden, indem ihre Entstehung nachvollzogen wird. H. beabsichtigt, durch eine religionsgeschichtliche Fragestellung im Rahmen frühjüdischer und frühchristlicher ›Kategorienwelten‹ (6) die In­karnationsvorstellung von dem Makel zu befreien, eine dogmatisierende Antwort auf Doketismus zu sein (4–5). Formalisiert ist es seine These, dass beide Vorstellungen, Inkarnation und Doketismus, »ge­meinsame Ursprünge in der frühjüdischen (und frühchristlichen) mystischen Auffassung von Gott und Welt« haben (5). Die Einlösung der These hypostasiert einen Einfall von Klaus Berger.
H. baut seine Arbeit logisch auf. Zuerst gibt er einen Forschungsüberblick zur Definition von Doketismus und seiner historischen Identifizierung (Teil A). Aus der daraus folgenden Klärung (auf keinen Fall Gnosis) ergebe sich, dass die Gegner im 1. Johannesbrief neu zu identifizieren sind und die Bekenntnisaussage 1Joh 4,2 (»dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist«) im Zu­sammenhang des Schreibens zu erläutern ist. Es werden die Gegner entdoketisiert (Teil B). Danach wird der Ausdruck »Fleisch des Messias« in den frühchristlichen Schriften als nicht antidoketisch nachgewiesen (Teil C) und in den Ignatiusbriefen Inkarnationschristologie und echter Doketismus aufgezeigt (Teil D).
Das Vorhandensein von Vorstellungen über »Inkarnationen« von Himmelswesen wird materialreich in frühjüdischer Mystik vorgeführt. Dabei sind Erlebnisse vom Aufstieg in die Himmelswelt Gottes und Visionsberichte über Zugang zu Himmel und Gott in den Vordergrund gerückt, letztlich Erfahrungen mit der Epiphanie Gottes und ihren dem Tempelkult entlehnten Metaphern (Teil E). Am Ende wird der Arbeitsgang und sein Ertrag in fünf Abschnitten zusammengefasst (Teil F, 479 f.). In einem angehängten Teil (G) gibt es zwei Nachträge. Zum einen wird die Spätdatierung der Ignatiusbriefe, wie sie Reinhard Hübner vorgetragen hat, für unwahrscheinlich erklärt (483–498). Zum andern werden vier Wortfeld-Tabellen zum 1. Johannesbrief geboten; sie sollen eine »Ar­beitshilfe« sein (498–502).
Neben der Gliederung in Teile läuft eine Kapiteleinteilung (bis 16). Jeder Teil und jedes Kapitel werden eingeleitet durch »Ziel und Übersicht«. Ebenfalls wird (fast) jedes Kapitel abgeschlossen mit »Ergebnisse«. Das führt zu Wiederholungen.
Das Auftreten von Doketismus ist fast überall mit den Gegnern im 1. Johannesbrief verbunden. Der forschungsgeschichtliche Über­blick (Teil A) weist die Brüchigkeit der Kategorie »Doketismus« nach und stellt außerdem heraus, dass die Gegner in 1Joh aus chronologischen Gründen nicht mit Gnosis (Doketismus und En­thusiasmus) identifiziert werden dürfen. H. datiert 1Joh vor 110 n. Chr. und stützt sich zusätzlich auf die Augenzeugenschaft zu Jesus, die der Autor beansprucht (1Joh 1,1–4) und die als Legitimierung »nicht umstritten sein« könne (101). Daraus ergebe sich, dass die Menschlichkeit Jesu gemeinsame Grundlage für Autor und Gegner gewesen sei und Doketismus nicht Streitpunkt gewesen sein könne. Das trennende Bekenntnis »Jesus ist der Christus« (1Joh 2,22) und »Jesus Christus ist im Fleisch gekommen« (1Joh 4,2) könne für jüdische Ohren nur heißen: Jesus, der Mensch, ist der Messias – in der Leugnung der Gegner: Jesus ist nicht der Messias gewesen und also ist der Messias überhaupt nicht gekommen. Als Grund sollen die Gegner die fehlende Wirkung des Messias, nämlich Sündlosigkeit der Glaubenden und Getauften, angeführt haben. Im Übrigen versucht H. zu zeigen, dass 1Joh mit dieser Auslegung stimmig er­klärt werden kann.
Im Teil C (217–273) legt H. alle Stellen vor, die »Fleisch des Mes­sias« enthalten: Neues Testament, Apostolische Väter (+ Thomasevangelium und Testamente der XII Patriarchen). Seine zusammenfassenden Beobachtungen (Kapitel 8: Ergebnisse) sind vielfältig, aber sie seien darin eindeutig, dass es nirgends um »do­ketistisch-antidoketistische Auseinandersetzung« gehe (273). H. gibt an, dass auch Klaus Berger das Thema ausführlich behandelt habe (219, Anm. 752).
Das Kapitel über »Ignatius und seine Gegner« (Teil D) hat zwar 90 Seiten, ist aber voller Wiederholungen und unkonturiert. Klaus Berger taucht in den Anmerkungen nicht auf, dafür häufig William Schoedel. H. liest die Briefe als historische Dokumente der Person Ignatius (um 110 n. Chr.). Mit Gegnern (Judaisierer und Doketisten) habe Ignatius nur in Philadelphia und Smyrna direkten Kontakt gehabt, so dass sich nur hier authentische Kenntnis niederschlage. Dadurch werde »zum Schein hat er gelitten« zu einem echten Schlagwort, ebenfalls eine geisterhafte Körperlosigkeit Jesu sowie Interesse an himmlischen Mächten. »Die Doketisten haben hier (scil. Inkarnationsvorstellung, M.) möglicherweise ›naiv‹ traditionelle Aussagen unter Einfluß von mystischen Erfahrungen und vulgärphilosophischen [scil. Anthropologie mit Leib statt Fleisch, negative Theologie, M.] Einflüssen aus dem pagan-griechischen Bereich ihre Auffassungen weiterentwickelt und werden erst durch Ignatius mit Macht auf die Konsequenzen ihrer Vorstellungen hingewiesen.« (275)
Dieses an sich magere, aber auch vorsichtige Ergebnis der Un­tersuchungen wird durch religionsgeschichtliches Material aus frühjüdischer und frühchristlicher Zeit massiv aufgefüllt, damit H., abgesehen von dem vulgärphilosophischen Motiv, ein Motiv für die Entstehung des Doketismus formulieren kann (vgl. 345). Im Teil E »Religionsgeschichtliche Entwicklungen« sammelt H. Vorstellungen zu »Isangelie« (Kapitel 10 »Mystik«), zu »Engeldoketismus« und »Polymorphie« (Kapitel 11 »Entwicklungslinien von der Angelologie zur Christologie«).
Nach H. ist Doketismus zuerst bei den Gegnern in den Ignatiusbriefen greifbar. Dessen Anlass sei gewesen, dass im Judentum das Leiden des Messias nicht vorgesehen war (472); davon sehe ich nichts im Ignatiuskapitel. Die Entstehung sei die Umbiegung ins Grundsätzliche wegen philosophischer Einflüsse, und die Lösung sei die Aufnahme von Engellehre/Engeldoketismus.
Betreffs Inkarnationschristologie geht H. davon aus, dass frühjüdische Vorstellungen von Mittlergestalten auf Jesus angewendet wurden, auch schon von Jesus auf sich selber (427.430). Aber die Schlüsselfrage sei: »Wie konnte ›Inkarnation‹ für frühjüdische Menschen denkbar werden?« (430). Richtiger wäre: »vorstellbar«. H. meint aber nicht allein die Vorstellungskategorien, sondern den Auslöser für eine neuartige Kombination von Vorstellungen (428). H. sieht den Auslöser in einer mystischen Erfahrung: »Die Person Jesu selbst muss historisch gesehen die Quelle starker mystischer Erfahrungen gewesen sein, die Jesus selbst gemacht hat und die andere an ihm gemacht haben« (462). Für Jesus selber nennt H. die Möglichkeit von »Ascensionserfahrungen« nach J. A. Bühner (z. B. »visionäre Himmelsreise Jesu«, 433) oder nach Klaus Berger »eine Art Superinspiration« (434), die H. bevorzugt (vgl. 478).
Das Räsonnement in frühjüdischen und frühchristlichen Texten zu Menschensohn, zu »Kleiderwechsel«, zu kultischem Bildmaterial überzeugt mich nicht, weil es doch auf den Gedanken und nicht nur auf Vorstellungen ankommt, da H. selber verschiedentlich gut formuliert: »Inkarnation bedeutet, dass an diesem Menschen (Jesus) epiphan Gottes Wirklichkeit erlebt werden kann« (427), oder: »Das Neuartige ist, dass Jesus nicht nur als Messias erlebt wird, sondern als Ort der Präsenz Gottes« (477). Theologisches Fragen liegt H. fern; in kreisenden Formulierungen be­schreibt er religionsgeschichtlich.
Die Bibliographie – ohne Quellen – umfasst 1081 Einträge, aufgeteilt unter sieben Rubriken. Die Anmerkungen folgen dem neueren Unfug, nur Name plus Titelstichwort ohne Jahreszahl anzugeben. Es gibt Register zu Bibel und Quellentexten, ausgewählten modernen Personen, antiken Personen, zusätzlich »Himmlisches Personal«. Das Register der Begriffe beruht auf guter Auswahl, bietet aber völlig undifferenziert die Masse der Seitenzahlen.