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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

356-358

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Sargent, Benjamin

Titel/Untertitel:

David Being a Prophet. The Contingency of Scripture upon History in the New Testament.

Verlag:

Berlin u. a.: De Gruyter 2014. XII, 215 S. = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft, 207. Geb. EUR 89,95. ISBN 978-3-11-036200-8.

Rezensent:

Lukas Bormann

Der Untertitel der Arbeit ist erklärungsbedürftig. Was meint Benjamin Sargent mit »the contingency of scripture upon history«? S. gibt da nur wenige Hinweise. In einer Fußnote diskutiert er immerhin das für das Verständnis des Begriffs Kontingenz wichtige Gegensatzpaar von »historisch« versus »ontologisch« (23, Anm. 58). Eine begriffsgeschichtliche Klärung fehlt allerdings. Zieht man die Definition, die Richard Rorty in seinem bekannten Buch über Kontingenz vorschlägt, heran, dann wäre folgendes Verständnis plausibel: S. möchte nachweisen, dass das Neue Testament die Schrift (= vereinfacht: das Alte Testament) als kontingent, d. h. als Produkt von Zeit und Zufall, versteht. Der exegetische Beleg dafür, dass die älteste Gemeinde und Jesus selbst die Kontingenz der Schrift anerkannt hätten, soll nach S. dazu verhelfen, die Kontingenzannahmen der historisch-kritischen Methode nicht als Folge einer atheistischen Aufklärung, sondern als »christlich« und somit als theologisch gerechtfertigt anzusehen (129). Die Arbeit entfaltet in den Kapiteln 1–3 die historisch-exegetische Beweisführung an einigen Texten aus dem Hebräerbrief, der Apostelgeschichte und den Synoptikern. Diese Ausführungen legen das Fundament für Kapitel 4, das hermeneutische Überlegungen zur bleibenden Relevanz einer christlich legitimen historischen Methode in den Bibelwissenschaften bietet.
Kapitel 1 (6–44) befasst sich mit der Auslegung von Ps 95,7–11 und 110,4 in Hebr 4,6–11 und 7,11–19. Hebr 4,6–11 entfalte folgende historische Argumentation auf der Basis von Ps 95 und Grundkenntnissen der Geschichte Israels: Wenn David in Ps 95,11 berichte, Gott werde sie nicht in die »Ruhe« eingehen lassen, belege diese Aussage aus der Zeit Davids, dass es Josua zuvor nicht gelungen sei, Israel in die »Ruhe« zu führen (vgl. Jos 1,12 u. ö.). Dadurch sei erwiesen, dass die »Ruhe« als eschatologisches Ereignis noch ausstünde. In Hebr 7,11–19 werde das historische Argument vorgebracht, dass die Priesterordnung des Melchizedek, die Abraham nach Gen 14 vor der Sinaioffenbarung anerkannt habe, diejenige der Leviten deswegen dauerhaft überbiete, weil David als Autor der Psalmen dies post legem in Ps 110,4 bestätige. Eine solche Argumentation sei trotz aller Nähe hinsichtlich anderer exegetischer Techniken weder bei Philo noch in den Qumrantexten oder in den Rabbinica zu finden. Sie belege vielmehr eine »unverwechselbar christliche Sicht der Geschichte« (43).
Kapitel 2 (45–91) untersucht die Pfingstrede des Petrus und die Rede des Paulus im pisidischen Antiochien, in denen Ps 16 und Ps 110 auf das Christusgeschehen bezogen werden. Im Unterschied zum Hebr werde in diesen Reden der Apg nicht die Abfassungszeit der zitierten Schriftstellen, sondern historisches Wissen über den Autor, d. h. über das Leben des Königs David, für die Interpretation herangezogen. In Apg 2,29 und 13,36 würde ein »höchst ungewöhnliches negatives Argument« vorgebracht (75): Die Aussage in Ps 16,10, (»dein Frommer wird keine Verwesung schauen«) könne nicht David meinen, da dieser ja gestorben und sein Leib verwest sei, sondern müsse auf eine andere Person, nämlich den Messias zielen. Wieder schließt das Kapitel mit Ausführungen, die nachweisen sollen, dass eine solche Umgangsweise mit der Schrift im antiken Judentum nicht zu finden sei.
Kapitel 3 (92–128) will nun an der Auslegung von Ps 110,1 in der synoptischen Davidsohnfrage zeigen, dass diese einzigartige historische Argumentationsform auf Jesus selbst zurückgehe (91). Dieser habe die Schrift historisch ausgelegt, indem er argumentierte, David könne in Ps 110,1 nicht sich selbst als κύριος angesprochen haben. Diese Auslegung von Ps 110,1 bilde die Grundform der his­torischen Argumentation, die in den behandelten Stellen aus Apg und Hebr aufgenommen worden sei (103.127 f.).
In Kapitel 4 (129–190) referiert S. ausführlich englischsprachige Kritiker der historischen Methode. Das Spektrum reicht von der traditionalistischen Kritik eines R. Williams (146 f.) bis zu der recht eigenwilligen Position von J. Milbank (132–137) und schließt zahlreiche Zwischenpositionen und auch selbstkritische Reflexionen von Exegeten wie M. Bockmuehl (147) und F. Watson (151) mit ein. S. plädiert für eine Art gemäßigter historischer Kritik innerhalb der Theologie (162–190). Seine Exegese habe nachgewiesen, dass es im Neuen Testament selbst eine Form der historischen Exegese gäbe, die nicht auf der theologiefeindlichen Aufklärung beruhe, sondern genuin christlich sei (163–165). Diese christliche Exegese solle der Theologie »dienen« (179 f.). Dies sei dadurch zu gewährleisten, dass die Glaubensüberzeugung des Lesers bei der Schriftinterpretation dem biblischen Autor begegne, der die Bedeutung eines Textes dadurch begrenze und definiere, dass seine historische Kontingenz ebenfalls als »rule of faith« fungiere, die die dogmatische regula fidei ersetze (180). In einem Exkurs präsentiert S. ein Beispiel für eine solche historisch-theologische Exegese, indem er Lk 10,25–37 in Verbindung mit 10,38–45 so interpretiert, dass der Autor Lukas hier die »Unfähigkeit der Menschheit gemäß der Forderungen des Gesetzes zu handeln« zeigen wolle (184). Bibliographie (191–208), Stellenindex und Stichwortregister (209–215) schließen den Band ab.
Die Arbeit entfaltet die historisch-kritische These, dass das Neue Testament einen unverwechselbar »christlichen« Schriftgebrauch kenne, und formuliert ein Plädoyer für eine solche »christliche« und gemäßigte historische Lektüre in der Gegenwart. Gegen die historische These ist einzuwenden, dass S. das antik-jüdische Material für eine solche Behauptung nicht ausreichend überblickt. Nur stichwortartig einige Gegenbeispiele: Auch Philo argumentiert in Abr 5 f. historisch für seine These von der Identität der Tora mit dem Naturgesetz, indem er Moses als Autor des Pentateuch die Intention unterstellt, er habe am Leben der Erzväter zeigen wollen, dass die Sinaigesetzgebung ihnen bereits ante legem als ungeschriebene Gesetze bekannt gewesen sei. Einige Rabbinen verorten in bSanh 92b die Totenfeldvision Hes 37 historisch und zwar in die Zeit Nebukadnezars, um die eschatologische Interpretation der Vision durch deren Historisierung zu widerlegen.
Das Plädoyer für eine gemäßigte »christliche« historische und theologische Hermeneutik mag dort einleuchten, wo sich die Frage nach der Überzeugungs- und Bindekraft christlicher Kirchen und Gemeinschaften stellt (140). Im Rahmen der wissenschaftlichen Theologie wird man eher nach der Rationalität dieser gemäßigten historischen Kritik fragen. Eine solche Diskussion setzt allerdings voraus, dass man in der hermeneutischen Frage die Verbindung mit der Philosophie aufrecht erhält, den Kontingenzbegriff auch auf seine theologischen Abgründe (»Zufall«) befragt und in der exegetischen Argumentation sowohl auf eine willkürliche Abgrenzung zum Judentum verzichtet als auch die paulinische wie die johanneische Theologie miteinbezieht. S. gibt einen interessanten Einblick in die Diskussion um die Schrifthermeneutik im angelsächsischen Raum und fordert auch die Theologie in reformatorischer Tradition zum vertieften Nachdenken heraus.