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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

352-354

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dettinger, Dorothee, u. Christof Landmesser [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ehe – Familie – Gemeinde. Theologische und soziologische Perspektiven auf frühchristliche Lebenswelten.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 263 S. = Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 46. Geb. EUR 44,00. ISBN 978-3-374-03622-6.

Rezensent:

Christine Gerber

Der Sammelband geht zurück auf eine international und interdisziplinär besetzte Tagung, die 2011 in Tübingen stattfand. Die Themen der Beiträge kreisen um die Frage »nach dem Verhältnis von sozialwissenschaftlicher bzw. sozialgeschichtlicher Methode und neutestamentlicher Wissenschaft« und sollen »diese übergreifende Fragestellung als exemplarische Untersuchung hinsichtlich der urchristlichen Familienstrukturen im antiken Umfeld […] konkretisieren« (5).
Die elf Beiträge lösen die Aufgabenstellung methodisch wie im Gegenstandsbereich sehr unterschiedlich. Vier Beiträge thematisieren Eheprobleme. C. Landmesser rekonstruiert die reservierte Sicht auf die Ehescheidung bei den Synoptikern und in 1Kor 7. Die Texte würden trotz der Scheidungsverbote bezeugen, dass es auch in den frühen Gemeinden Scheidungen gab, aber auch, dass der christliche Glaube die Lebenspraxis bestimmen solle. Um zu analysieren, wie Paulus Sexualität innerhalb der Ehe beurteilt, setzt T. Engberg-Pedersen hingegen anthropologisch an, insbesondere durch Vergleich mit stoischen Konzeptionen. Paulus habe das Leibliche als in sich sündig angesehen, weshalb er selbst Sex in der Ehe negativ beurteilt habe. Sex sei auch von Erlösten so wenig und indifferent wie möglich zu praktizieren. Ein etwas anderes Bild der Stoa entwirft freilich M. Becker, der unter der schönen Alliteration »Von Bienen, Blättern und Bohnen« die Bildersprache vorstellt, mit der die stoische Eheprotreptik des Antipater aus Tarsus, Musonius Rufus und Hierokles für die Ehe warb, um sich gegen die kynisch beeinflusste Eheskepsis der eigenen Schultradition zu verwahren. K. Piepenbrink vergleicht schließlich, in welchen Aspekten der Ehe­ethik sich christliche Autoren des 2. und 3. Jh.s von der paganen Umwelt dezidiert abgrenzten und worin sie sich tatsächlich unterschieden.
Das zweite titelgebende Stichwort, »Familie«, wird in drei Beiträgen aufgegriffen: Nach einem Überblick von A. Lindemann über die Situation von Kindern und Eltern in frühchristlichen Gemeinden zeigt M. Y. MacDonald unter der wissenssoziologischen Frage, anschließend an P. Berger und T. Luckmann, dass die Forderung der Haustafeln nach Erziehung von Kindern und Sklavinnen und Sklaven als Beitrag zur »Sozialisation« und damit zur Konstruktion einer christlichen Identität verstanden werden könne. Von Realität und Ideal der Geschwisterbeziehungen in jüdischen Familien handelt M. Satlow.
Unter das Stichwort »Gemeinde« sind drei weitere Beiträge zu subsumieren, die das Verhältnis christlicher Gemeinden zur nichtchristlichen Umwelt rekonstruieren. Die Melange aus Anpassung und Abgrenzung im 1Petr untersucht D. Dettinger mittels eines sozialpsychologischen Zugangs. Die gewisse Distanzierung der Gemeinde sei von der nichtchristlichen Umwelt als Devianz wahrgenommen und sanktioniert worden; die Gemeinde habe sich ihrerseits um Anpassung an die Umwelt bemüht, soweit das theologisch tragbar gewesen sei. F. Portenhauser analysiert mit N. Luhmanns systemtheoretischer Unterscheidung von »Exklusion« und »Inklusion« das Identitätsangebot des 1Kor (bes. 1,18–31). Werde Exklusion soziologisch als für die Identitätsbildung notwendig dargestellt, begründe Paulus sie hingegen theologisch (freilich be­zogen auf eine ganz andere Gesellschaft als Luhmann). Während Portenhauser zwischen der jüdischen und der paganen Umwelt als Gegenüber zu den »Christen« nicht unterscheidet, ist nach der Analyse Ph. Eslers die Rede von »Christen« etc. anachronistisch und die Unterscheidung von »Judeans vis-à-vis Christ-Followers« (184) eine spezifische, nämlich kategorial asymmetrische: Die christliche Identität habe sich als nicht-ethnische gezielt von der jüdischen als ethnischer abgegrenzt. Esler greift für seinen Überblick über die Identität des »Christ-movements« (179) in mehreren Corpora des Neuen Testaments auf die sozialpsychologisch begründete Theorie der sozialen Identität (H. Tajfel; J. Turner) zurück.
Der abschließende Beitrag von G. Theißen stellt die Meta-Fragestellung nach dem Verhältnis von Theologie und Soziologie in den Mittelpunkt, indem er die Geschichte der soziologischen Exegese seit ihren Anfängen Revue passieren lässt, allerdings ohne die eben genannten sozialwissenschaftlichen Ansätze anzusprechen. Theißen verteidigt seinen Ansatz gegen den Vorwurf, untheologisch zu sein, kann aber als einer, der selbst konflikttheoretisch ansetzt, den hermeneutischen Konflikt als notwendig würdigen.
Der Band wird erschlossen durch drei Register; dass das Sachregister englische und deutsche Äquivalente (wie »Liebe« und »love«, »child« und »Kind«) nicht unter ein Stichwort fasst, scheint wie ein Menetekel für das Auseinanderdriften der Wissenschaftswelten.
Einen Sammelband zu rezensieren stellt vor die Aufgabe, in we­nigen Sätzen den Ertrag des Buches zusammenzufassen. In diesem Falle ist das eine echte Herausforderung, unternimmt es doch der Band selbst nicht, eine Summe der Ergebnisse zu Gegenständen oder der angemessenen Methodik zu ziehen. Schon die Reihung der Beiträge erschließt sich der Rezensentin nicht. Zudem besitzt die oben zitierte Fragestellung der Tagung eine erhebliche Fliehkraft. Inhaltlich nehmen die »Lebenswelten« von Ehe, Familie und Gemeinde ein weites Feld frühchristlichen Lebens in den Blick. Die Beiträge entfalten einzelne Szenen interessant und lesenswert. Dass so kein umfassendes Genrebild entsteht, ist nachzusehen, bildet es ab, wie differenziert sich frühchristliches Familien- und Gemeindeleben in einer ihrerseits pluralen Umwelt entfaltete.
Nachteilig aber ist, dass die Aufgabenstellung im Blick auf die sozialwissenschaftliche Methodik und Hermeneutik nur in einem Teil der Aufsätze überhaupt aufgenommen wird, und wenn, dann mittels ganz unterschiedlicher soziologischer Ansätze bzw. – m. E. wäre da zu unterscheiden – sozialgeschichtlicher Recherchen. Dass die diversen Ansätze nicht miteinander in ein Gespräch gebracht werden, mindert den Ertrag des Bandes. Auch die übergeordnete Frage nach der Rolle sozialwissenschaftlicher Methoden zur Erforschung des Neuen Testaments wird nur in einem Teil der Beiträge diskutiert. Das mag ein Indiz dafür sein, dass ein hermeneutischer Konflikt dort, wo sozialwissenschaftliche Fragen längst etabliert sind, gar nicht mehr wahrgenommen wird.
Der Sammelband kann so die methodologische und hermeneutische Ausgangsfrage nicht voranbringen. Sein methodischer und exegetischer Beitrag liegt in den einzelnen Aufsätzen, die lesenswert sind und im Blick auf inhaltliche Aspekte wie methodische Diskurse Aufmerksamkeit verdienen.