Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2016

Spalte:

331-333

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Heimbach-Steins, Marianne, u. Georg Steins [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Bibelhermeneutik und Christliche Sozialethik. Hrsg. in Verbindung m. A. Filipovi´c u. K. Rödiger.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2012. 319 S. m. Abb. u. Tab. Kart. EUR 34,90. ISBN 978-3-17-022215-1.

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Der hier zu besprechende Band ist dem methodisch wie wissenschaftspolitisch wichtigen Vorhaben verpflichtet, Grundfragen der biblischen Hermeneutik fächerübergreifend zu bearbeiten. Die beiden Herausgeber bilden im Bereich der katholischen Theologie in Münster und Osnabrück ihrerseits diese Fächervielfalt ab (Christliche Sozialwissenschaften und Alttestamentliche Exegese) – sie kommt der Konzeption des Bandes, der vom Jahre 2008 an aus einem »Kooperationsprojekt«, d. h. »einem mehrjährigen wissenschaftlichen Austausch zwischen Christlicher Sozialethik und Bibelwissenschaft/Bibelhermeneutik« hervorging (7), zweifellos zugute. Eine Konzentration auf alttestamentliche Themenstellungen ist aber unübersehbar.
Inhaltlich geht es weniger um die Erarbeitung einer aus den biblischen Texten gewonnenen »materialen Ethik« als vielmehr um die bibelhermeneutische Reflexion der theologischen Grundlagen, auf die Christliche Sozialethik in den ihr vorgegebenen gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Diskursen der Gegenwart aufbauen kann – oder anders gesagt: Es treten »fundamental-ethische« Fragen in der Weise in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses, dass sie eine erfolgreiche Bearbeitung mit Hilfe der vertieften Darstellung einer Bibelhermeneutik versprechen, die über eine »Steinbruchexegese« hinausweist (14). (Alttestamentliche) Exegese und Bibelhermeneutik werden dadurch nicht nur zur Mitarbeit an einer christlichen Sozialethik eingeladen, sondern sogar zu deren Schlüsselfigur gemacht: ein verheißungsvolles Versprechen, das in seinem Anspruch über die »Rückfrage nach den biblischen Quellen« und der Gewinnung eines »Deutungsrahmen(s)« für ethische Fragen hinausgehen soll (13). Wie aber wird dieses Versprechen in der Gesamt-Konzeption des Bandes und in dessen Einzelbeiträgen im Weiteren formuliert und eingelöst?
Der Band ist – nach einer umfangreichen, punktuell schon ge­nannten (s. o.) Einleitung der Herausgeberin (»Christliche Sozialethik – im Gespräch mit der Bibel«, 11–36) – in drei Kapitel untergliedert: In Teil I finden sich unter der Überschrift »Hermeneutische Basiskategorien und -begriffe« insgesamt fünf Beiträge, die den Themen »Kanonbewusste Auslegung« (G. Steins, 37–62), »Lesen als ethischer Akt« (K. Rödiger, 63–89), »Zusammenhänge von Hermeneutik und Politik« (A. Filipovic´, 90–114), »Handlungstheorie« (D. Bogner/B. Wellmann, 115–133) und »Nachfolge versus Nachahmung« (A. B. Kunze, 134–153) gewidmet sind. In diesem Teil der Anthologie werden also die Grundkoordinaten einer biblisch fundierten christlichen Sozialethik benannt. Die Auswahl der Themen und Beiträge kann (und will) nicht den Anspruch erheben, vollständig zu sein – sie eröffnet aber in aspekthafter Form die Diskussion darüber, wie weit sozialethische Problemstellungen gewinnbringend von bibelhermeneutischen Grundfragen her entwickelt werden können. So werden der Wert biblischer Texte und deren Auslegung etwa darin gesehen, »basale Kategorien sozialer Anthropologie« zu entwerfen (133) oder kulturelle Sphären herzustellen, die die Bildung von »Interpretationsgemeinschaften« (109) ermöglichen. Die Bibellektüre wird dabei u. a. als »Vollzug der Nachfolge« konzipiert (146)
Zu fragen bleibt, ob G. Steins’ einleitendes (37 ff.) Plädoyer für die kanonische Lektüre der Bibel bloß als eine (legitime, wenn auch kritikwürdige) Lektüre-Möglichkeit zu verstehen ist oder ob diese als eine hermeneutische Prädisposition dem anthologischen Gesamtunternehmen implizit vorgegeben ist (in diese Richtung weisen jedenfalls S. 19 ff. trotz der hier vorgenommenen Abgrenzung von einer »Hermeneutik engagierter Lektüren«) – Letzteres wäre nicht nur hermeneutisch problematisch, sondern auch in Hinsicht darauf, dass der Dialog zwischen Exegese und Ethik facettenreich bleiben muss, kontraproduktiv. Sozialethisch relevante Fragen, die sich aus der hermeneutischen Beschäftigung etwa mit Paulus oder Matthäus herleiten lassen, werden an vielen Punkten gegeneinander stehen und sich gerade nicht harmonisieren lassen. Die kanonische Lektüre dagegen, die sich vielleicht nicht zufällig weitgehend alttestamentlicher Bibelwissenschaft verdankt, zwängt die Texte nicht nur in ein theologisches Korsett (»Kanon«), sondern verhindert die ggf. wichtige hermeneutische Wahrnehmung, dass die sachliche Multiperspektivität der biblischen und hier: besonders der neutestamentlichen Texte zur Zeit ihrer literarischen Entstehung zumindest in Teilen aus gegenseitiger Kritik, Ablehnung oder Konkurrenz resultierte. Besonders im Bereich der neutestamentlichen Exegese und Hermeneutik wird dabei gerade auch das produktive Spannungs-Verhältnis zur Septuaginta relevant. Diese und ähnliche Fragestellungen werden allerdings im vorliegenden Band weitgehend ausgeklammert.
In Teil II (»Ethische Grundfragen – biblisch gespiegelt«) wird gleichsam in umgekehrter Richtung der Versuch unternommen, darzustellen, wie bestimmte ethische Grundfragen der Gegenwart, so z. B. ökologische Nachhaltigkeit und Gesellschaftskritik, in den biblischen Texten selbst wiederentdeckt werden können. Dabei stehen wiederum überwiegend alttestamentliche Texte im Vordergrund der Untersuchung, so der Dekalog (W. Lesch, 154–164), das Schema Israel (S. Zink, 165–186), Genesis 1–2 (A. Lienkamp, 187–216), die Psalmen (A. M. Riedl, 217–225), die »Prophetische Gesellschaftskritik« des Amos (P. Meiners, 226–245) und die »Weisheitstopoi« (M. Barbato, 262–289). Der – durchaus anregend geschriebene – Beitrag zu »Paulus zwischen Universalitätsanspruch und Partikularität« (W. Lesch, 246–261) steht in mehrfacher Hinsicht allein: Es handelt sich um den einzigen Beitrag zu einem neutestamentlichen Themenkomplex (s. aber Überlegungen zur Lektüre von Joh 12 im Lichte des »hermeneutischen Tanzes«: 80 ff.); die Frage nach der Bedeutung des Paulus in den jüngeren philosophischen readings (254 ff.) stellt zwar eine hermeneutische Herausforderung dar, ist aber – wenn überhaupt – nur sehr mittelbar mit sozialethischen Diskursen verknüpft.
In Teil III (»Fallstudien zur Bibelrezeption in kirchlichen Texten«) wird nun noch einmal die katholische Verankerung und Prägung des Gesamtprojektes explizit greifbar. In drei Fallstudien zu prominenten kirchenleitenden Dokumenten aus den Jahren 1986–2008 zu Wirtschaftsethik, Friedensethik und Bibel und Moral (G. Adamski, T. Nauerth, G. Steins: 290–318) wird nach der biblischen Fundierung der Sozialethik gefragt: Das Ziel besteht darin, einen möglichen »new dogmatism […] in Dokumenten der Soziallehre der Kirche« (15) aufzudecken und dagegen die verschiedenen Formen des Schriftbezuges innerhalb und außerhalb eines »normativen Rekurses auf die Bibel« (316) sichtbar zu machen. Das bibelhermeneutische Unternehmen wirkt besonders hier nicht nur konfessorisch, sondern auch apologetisch, indem die Bibellektüre als selbstverständliche Quelle christlicher, und d. h. katholischer Soziallehre hervortreten soll. So anregend das Gesamtpanorama ist, das dieser Band eröffnet, wenn er die »Konturen hermeneutisch be­wusster Bibelrezeption für die theologische Ethik« (11) zu erarbeiten sucht – der Ertrag für den exegetisch fokussierten Diskurs über die Grundfragen der Bibelhermeneutik oder eine von neutes­tamentlichen Texten inspirierte (christliche) Sozialethik fällt eher gering aus. Es scheint, als läge der Ball erwartungsvoll im Spielfeld der neutestamentlichen Wissenschaft.