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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

320-323

Kategorie:

Altertumswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Gebauer, Sascha, Liwak, Rüdiger, u. Peter Welten

Titel/Untertitel:

Pilger, Forscher, Abenteurer. Das Heilige Land in frühen Fotografien der Sammlung Greßmann.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. X, 259 S. m. zahlr. Abb. = Studien zu Kirche und Israel. Neue Folge, 8. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-03873-2.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Seit der Erfindung der Fotografie in der Mitte des 19. Jh.s haben gelehrte Europäer immer wieder den Orient mit ihren Kameras einzufangen versucht – hingerissen von einer fremden Welt, geleitet von vorgefassten Klischees, motiviert von wissenschaftlichen Interessen und zunehmend versiert in der Dokumentation historischer Stätten und kulturgeschichtlich belangvoller Szenen. Unter den Sammlungen, die in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg entstehen, nimmt diejenige von Hugo Greßmann (1877–1927), dem Leiter des Berliner Institutum Judaicum, einen bedeutenden Platz ein. Begonnen während eines Palästinaaufenthaltes 1906/07 und fortan in Berlin erweitert und bewahrt, wurde diese Sammlung 1994 »wiederentdeckt«, konserviert und digitalisiert. Ein Teil dieser Bilder ist seither unter www.palaestinabilder.de schon zugänglich gemacht worden. Für den gesamten Fundus aber bietet der vorliegende Band nun erstmals eine gemeinsame Einführung, in der die Bilder von den drei Autoren unter verschiedenen Gesichtspunkten neu erschlossen werden.
Die Einleitung von Rüdiger Liwak reflektiert in grundsätzlicher Weise das Thema »Pilgern und Forschen. Bilder als Medium von Frömmigkeit und Wissenschaft«. Das weite Feld romantisch verklärter Wahrnehmungen des Orients, das lange Zeit nicht nur die Belletristik, sondern auch die Fachliteratur bestimmt hatte, ist seit den 1970er Jahren einem kritischen Diskurs unterzogen worden. Hier setzt auch die Standortbestimmung der Berliner Sammlung an. Bei aller wissenschaftlichen Akribie bleiben die Fotografen doch stets Kinder ihrer Zeit. Sie suchen nach kulturellen Kontinuitäten und bilden die Wirklichkeit so ab, wie sie im Rahmen ihrer Textstudien darauf eingestellt sind und wie sie die Orte der biblischen Überlieferung erwarten.
Der erste Beitrag von Rüdiger Liwak nimmt diese Problematik auf und behandelt »Das Interesse Europas am Heiligen Land«. Er leuchtet damit den Kontext aus, in dem die Fotosammlung entstanden ist – die politische Lage des Osmanischen Reiches, die deutsche Präsenz im Heiligen Land, die berühmte Orientreise Kaiser Wilhelms II., kirchliche und wissenschaftliche Aktivitäten, und schließlich die Gründung des »Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumskunde des Heiligen Landes« seit 1902 unter Gustav Dalman.
Sascha Gebauer wendet sich sodann mit »Fotografie und Fotografen im Orient« der Entwicklung der Fotografie und ihren ersten Erfolgen bei den gelehrten Orientreisenden zu. Dabei wird deutlich, wie stark diese Phase noch von den Traditionen der Malerei, von etablierten Sujets und Sehgewohnheiten abhängt. Erst allmählich gelingt es der Fotografie, sich zu emanzipieren.
Eine eindrückliche Illustration liefert dazu der zweite Beitrag von Sascha Gebauer, »Von Menschen und Menschenbildern. Der Orient im Spiegel früher Fotografie«. Auch wenn Forscher und Fotografen ein wachsendes Problembewusstsein ihrer eigenen Arbeit gegenüber entwickeln, bleibt die Gefahr bestehen, »einer Konstruktion nachzulaufen und dabei den Blick für die Wirklichkeit zu verlieren« (54). Im Anschluss werden dann insgesamt 23 solcher »Menschenbilder« vorgestellt und von Auszügen aus Reisetagebüchern begleitet, die den Blick der Kamera noch einmal durch die beschreibende Wahrnehmung zeitgenössischer Reisender (in bunter, breit gefächerter Palette) kommentieren.
Derart vorbereitet wendet sich Sascha Gebauer dem Thema »Hugo Greßmann – Der Orient und das Alte Testament« zu. Erwartungsgemäß dominiert bei Greßmann der Blick des Alttestamentlers, der nach religionsgeschichtlichen Einflüssen sucht und die biblischen Erzählungen verorten möchte. Dabei widersteht auch ein kritischer Geist wie er der Versuchung nicht, Rückübertragungen kultureller Gegebenheiten auf die biblische Zeit vorzunehmen. Seine bleibende Leistung aber besteht darin, die Bildkunst des Alten Orients sowie archäologische und topographische Erkenntnisse glei­chermaßen zum festen Bestandteil der Textexegese zu machen. Daran schließen sich »Bilder zur Lehrkursreise vom 2. bis 24. April 1907« an, die Sascha Gebauer nun mit Tagebuchaufzeichnungen Greßmanns parallelisiert hat. Zu solchen Unternehmungen finden sich übrigens auch in der Greifswalder Dalman-Sammlung ganz vergleichbare Fotoalben, die – von verschiedenen Teilnehmern er­stellt – die Reisegesellschaft der Professoren in Palästina abbilden. Was die Greifswalder Alben nicht zeigen, bietet jedoch die vorliegende Veröffentlichung: Text und Bild ergänzen einander, Fotograf und Autor sind identisch. Die insgesamt 19 Bilder leuchten mit ihren kurzen Erläuterungen ein Panorama aus, das vor allem Galiläa und das Land zu beiden Seiten des Jordans umspannt.
Diesem Modell ist auch ein weiterer Beitrag von Rüdiger Liwak verpflichtet, der »Bilder zur Stadtkultur« vorstellt. Nun aber werden die Bilder vom Autor selbst kommentiert und in das Licht der jüngsten archäologischen Forschungen gestellt. Die Auswahl ist dabei so getroffen, dass sie den Bogen von Jerusalem aus über Tiberias, Nazareth, Nablus bis nach Damaskus, Tyrus, Beirut und Mekka schlägt – ganz dem Interesse der damals noch nicht an die heutigen Grenzen gebundenen Reisenden entsprechend.
Peter Welten präsentiert »Bilder zu Landwirtschaft und Pflanzen«, wie sie etwa auch in Dalmans Standardwerk »Arbeit und Sitte in Palästina« (1928–1942.2001) eine wichtige Rolle spielen. An dieser Stelle ist der Anspruch, das Land in allen seinen Erscheinungsformen zu dokumentieren, am deutlichsten zu verspüren. In der Dalman-Sammlung, wie sie heute noch in ihrer Verteilung auf die Standorte Greifswald und Jerusalem besteht, finden sich zu den hier versammelten Fotos gelegentlich auch noch die entsprechenden Objekte oder Modelle. Das betrifft vor allem die an beiden Orten befindlichen umfangreichen Herbarien.
Der letzte Beitrag publiziert erstmals »Eine Reise ins Heilige Land vom 12. Sept. 1912 bis 23. Sept. 1914. Reisebericht mit Fotografien von Gotthilf Schrenk (1886–1950)«, die von Peter Welten kommentiert wird. Erneut stammen Text und Bild in großer Passgenauigkeit von demselben Autor. Von den ursprünglich 100 Bildern sind für die Veröffentlichung aktuell 49 ausgewählt worden. Abgesehen von einer ausführlichen Schilderung der Hin- und Rück-reise bietet dieser Bericht wertvolle, authentische Einblicke in das Leben des von Ludwig Schneller begründeten syrischen Waisenhauses und die damit verbundene Frömmigkeit.
Im Bildbestand des Buches gibt es drei Doppelungen (15/140; 134/196; 180/201), die man angesichts des reichen Bildvorrats auch hätte vermeiden können. Vier der durchgängig schwarzweiß wiedergegebenen Bilder werden am Ende des Bandes noch einmal in Farbe wiederholt. Zu korrigieren ist S. 172: Dalmans Vogelsammlung existiert noch; sie befindet sich heute in dem evangelischen Bildungszentrum Talitha Kumi in Beit Jala nahe Bethlehem.
Jeder Beitrag dieses Bandes wird mit weiterführenden Literaturangaben versehen, die den jüngsten Forschungsstand zur Sache dokumentieren. Mit insgesamt 164 Bildern bietet er einen repräsentativen Querschnitt der im Ganzen ca. 2000 Bilder umfassenden Berliner Sammlung.
Dem Berliner Bestand korrespondiert einer Reihe vergleichbarer Bilddokumentationen, von denen Greifswald und Halle die räumlich und sachlich nächstliegenden sind. Weltweit kommen Sammlungen in Jerusalem, New York, Philadelphia und an anderen Orten hinzu. Sie stellen heute eine unschätzbare Quelle für alle topographischen und archäologischen Forschungen in Palästina dar. Wo sich auf diesen Bildern noch distelbestandene Flächen er­strecken und zerstreute Dörfer befinden, kreuzen inzwischen Autobahnen oder stehen Supermärkte neben völlig veränderten Siedlungsstrukturen. Während etwa auf S. 145 die Auguste-Viktoria-Stiftung noch zwischen freien Feldern liegt, ist sie heute von quirligem Stadtleben umgeben. Diesen reichen Fundus vollständig zugänglich zu machen und in einem gemeinsamen Portal aller Sammlungen zu vereinen, wäre ein Projekt, das jede Anstrengung verdient! Der vorliegende Band hat von Berliner Seite aus dazu den Weg in mustergültiger Weise geebnet.