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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

316-318

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Tyrell, Hartmann

Titel/Untertitel:

»Religion« in der Soziologie Max Webers.

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014. LIV, 357 S. m. 2 Ktn. = Kultur- und sozialwissenschaftliche Studien, 10. Geb. EUR 74,00. ISBN 978-3-447-06888-8.

Rezensent:

Hans-Jürgen Wolff

Der globale Siegeslauf des Kapitalismus, der gefühlte Niedergang des Okzidents, das Anschwellen religiös begründeter Herrschaft und Gewalt, der cultural turn in den Sozialwissenschaften, das räumlich immer engere Zusammenleben der Bewohner höchst un­terschiedlicher (Un-)Glaubenswelten, der tendenzielle Bedeutungsverlust der christlichen Anstaltskirchen für die Lebensführung selbst ihrer Angehörigen und die gleichzeitig zunehmende Moralisierung aller möglichen Diskurse lassen seit einigen Jahren die Religionssoziologie florieren, weil sie verspricht, uns zu verstehen zu helfen, wie wir wurden, was wir sind. Eine Gründergestalt dieser Wissenschaft ist Max Weber, dessen Leben so spannungsreich verlief wie seine Werk- und Publikationsgeschichte bruchstückhaft und komplex. Das Buch von Hartmann Tyrell zeigt eindrucksvoll: Webers Beitrag zur Religionssoziologie und – prominent ausgehend gerade von ihr – zur etwaigen Erkenntnis unserer Lage und Perspektiven heute, er wird sich nur dann ganz heben lassen, wenn Webers Werk in seinen wissenschaftlichen, literarischen und persönlichen Bezügen immer wieder vorgenommen, immer weiter ausgeleuchtet und immer besser verstanden wird. Je präziser seine Fragen und Erkenntnisse rekonstruiert sind, desto fruchtbringender werden sie auf die Entwicklungen anzuwenden sein, die uns seit dem Ende der Block-Konfrontation, der Beschleunigung der Globalisierung, dem Ausgreifen der Wissenschaft in ferne Galaxien ebenso wie in das menschliche Genom, der digitalen Revolution und der Heraufkunft unendlicher virtueller Welten bewegen und bedrängen.
Die in dem Band versammelten Aufsätze und Vorträge entstammen meist der Mitte der 1990er Jahre; sie sind also unabgelenkt von vielen Entwicklungen entstanden, die inzwischen zu Recht das Forschungsinteresse der Religionssoziologie neu beleben und binden, und das wirkt durchaus vorteilhaft, weil sie diese aktuelle Arbeit gründlich auch an Weber orientieren helfen können, damit er weder zum bloßen Schlagwortlieferanten verblasst noch zur unhinterfragten Autorität sklerotisiert. Als Einleitung vorangestellt sind einführende Anmerkungen zu Max Webers So­ziologie: Wo gehört sein Werk hin? Ins pessimistische 19. Jh., dem das zuversichtliche Lächeln der aufklärerischen Vernunft naiv ge­worden ist, ebenso wie ins individualistische 20. Jh., das rationalerweise Furcht empfindet im stählernen Gehäuse der Bürokratie und angesichts der ökonomischen Verwertung noch der letzten Unze Roh- und Brennstoff. Woher bezieht Webers Soziologie zentrale Fragen und Antriebskräfte? Von seinen religionssoziologischen Schriften her, in denen grundlegende Fragen der Vergemeinschaftung und der Entzauberung, der Rationalisierung und der Lebensführung, der Selbstprogrammierung von Individuen, Schichten und Kulturen und der Austreibung des Glaubens aus den Verhältnissen behandelt sind, die er selber geprägt und denen er selber die Kraft verliehen hat, sich selbst genug zu sein und ohne ihn auszukommen – ein klassisches Beispiel unvorhergesehener, aus der ehedem prägenden Wertsphäre betrachtet schlechter, ja böser Folgen guten Handelns. Wie bietet Weber – oder besser gesagt: wie bieten die Eheleute Weber – Soziologie dar? Vermittels einer Kategorienlehre, welche Grundformen des sozialen, wirtschaftlichen und po­litischen Handelns auf den Begriff bringt; vermittels in Typenbegriffe eingeordneter, systematischer Einzelstudien zu Gebieten wie dem Recht, der Herrschaft, dem Staat; und vermittels historisch schildernder Analysen von Kausalzusammenhängen, die im­mer den Blick wandern lassen zwischen den untersuchten Religionen und der Wirtschaft, der sozialen Schichtung etc. Lassen sich in alledem Kulturgeschichte und Soziologie säuberlich trennen? Gegenfrage: Wie sollte das möglich sein? Beide sind ja für Weber empirische Wissenschaften, nur suche die Soziologie auf Begriffe zu kommen und auf generelle Regeln in den Geschichten, welche die Historiker darüber erzählen, mit welchen Motiven, Mitteln und Folgen Menschen gehandelt haben. Mit Recht hält aber T. fest: kulturgeschichtlich ist Weber der Nehmende (und der nach seinen charakterlichen Dispositionen Wählende dabei, wie etwa am Beispiel von Burckhardts Griechischer Kulturgeschichte gezeigt wird), soziologisch ist er der Gebende.
Der Einleitung folgt ein »Werkgeschichtliches« überschriebener Abschnitt, der sich Webers Wirtschaftsethik der Weltreligionen widmet, die ein wenig an eine Streuobstwiese erinnernde Werk-, Publikations- und Editionsgeschichte erhellt und deutlich macht, wie sehr Weber stets auf konditionierende Wechselwirkungen zwischen den Lebenssphären achtete, wie stark sein Ansatz ein komparatistischer, durch Vergleich Erkenntnis suchender gewesen ist, und wie sehr dieser Ansatz der Antwort auf die okzidentale Frage diente: Warum hier, warum wir, warum der Durchbruch zum spezifisch westlichen Kapitalismus, der die Welt verwandelt hat?
Es folgt ein Abschnitt zum Religionsbegriff, der Max Webers Verständnis des Religiösen komparativ-kontrastierend von Durkheim und Simmel abhebt, mit ihm zwischen Charisma und Religiösem unterscheidet und erklärt, warum sich Weber auf eine Be­griffsbestimmung von Religion oder gar des »Wesens« der Religion für seine Forschungszwecke nicht einlassen wollte (übrigens ist es gerade angesichts der Zerklüftetheit des Weber’schen Werkes ein Vorzug von T.s Buch, dass immer wieder auch vermerkt wird, was Weber nicht definiert hat, was er nicht mehr hat genauer ausführen können, was bei ihm sozusagen fehlt – solche Hinweise ersparen nämlich Suchkosten und das unangenehme Gefühl, möglicherweise etwas übersehen zu haben). T. versucht sich aber an einer (vielschichtigen und die »Einseitigkeiten und Schlagseiten« markierenden) »Rekonstruktion« des Weber’schen Verständnisses des Religiösen und spannt dafür, auch unter vielfältigen Verweisen auf unterschiedliche Weber-Lesarten, die Themen Handlungsbezug, Lebensführung, Rationalisierung durch Entzauberung und Entzauberung speziell durch Prophetie auf, die zur sozialen Diszi-plinierung ruft. Die Entwicklung kulminiere für Weber in dem Ge­bot, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen (auch um der eigenen erhofften oder prädestinierten Erlösung willen natürlich!), die Weber »das eigentlich schöpferische Element der west-lichen Kulturentwicklung« genannt hat. Dass an dieser Stelle der Widerstreit von Gesinnungs- und Verantwortungsethik aufbricht, liegt – nach (post) Weber – auf der Hand.
Nach soziologischen Überlegungen über Das Gesellige in der Religion in Anknüpfung an Friedrich Schleiermachers Vierte Rede folgt ein Abschnitt über die Potenz der Religion zur Bildung kollektiver Haltungen und Verwandlung der Welt, dargelegt in Die Protestantische Ethik (PE), und über ihre »Depotenzierung« durch den rationalen Kapitalismus und die moderne Wissenschaft, die dem Religiösen »die Lebensluft« entziehen. Die PE wird als Suche nach der Genese des modernen Kapitalismus gelesen – so kritisch wie um Verstehen bemüht, was an ihm Weber so irritiert und interessiert hat (in dem Zusammenhang zusätzlich erhellend die Weber-Biographie von Dirk Kaesler zu familiären Hintergründen). Unter Seitenblicken auf Ernst Troeltsch, Friedrich Nietzsche und Karl Marx wird gezeigt, wie vor allem Nietzsche Weber die Augen für die Bedeutung der innerweltlichen Askese und der religiösen Erziehungsleistung geöffnet hat, auch wenn dieser Beitrag zum Entstehen des rechenhaften Kapitalismus unsichtbar geworden ist, sobald dieser systemisch wurde und sich wie alle Systeme selbst genug war. Doch ob für die Insassen des Systems nun noch sichtbar oder nicht – hier hat, so Weber gegen Marx, ursprünglich das religiöse Bewusstsein das ökonomische Sein bestimmt.
Der vierte und letzte Abschnitt des Buches behandelt unter der Überschrift »Wertkollision und ›Sinn‹-Semantik« mehrerlei Webersche Perspektiven auf das Thema Religion und für ihn typische Gestimmtheiten und Positionen. Zunächst geht es um die »Tragödie der Religion bei Max Weber und Friedrich Nietzsche«, um den Gang der Wissenschaft von der enthusiastischen Erkenntnis des Wahren, Guten und Schönen, des Göttlichen in der Welt, der dank intellektueller Redlichkeit in völliger Desillusionierung vom me­taphysischen Sinn, in der Entzauberung der Religion als unwissenschaftlich und in der Bodenlosigkeit der Wissenschaft endet, die einfach nur immer weitermachen kann, ohne noch sagen zu können, welchen Sinn das Ganze denn eigentlich haben soll. Sodann widmet T. dem Pessimismus – einem Wesenszug des düster-redlichen Weber – eine »Begriffsgeschichtliche Notiz« und geht dem Thema »Wertkollision und christliche Werte« nach, das wiederum auch biographisch grundiert ist. Gezeigt werden Webers Respekt vor einer radikal christlichen Ethik, wie sie für ihn Tolstoi verkör perte, seine Geringschätzung aller bequemlichen Inkonsequenz auch auf diesem Felde und seine Überzeugung, dass unter der Weltherrschaft des Kapitalismus die Verstrickung des Einzelnen in Sachzwänge und Schuldzusammenhänge so allgegenwärtig er­scheine, dass sich ein christliches Leben der Bruder-, ja Feindesliebe unmöglich noch führen lasse.
Es folgen wenn schon keine Tiefen-, so doch eine veritable Probebohrung zum Thema »Intellektuellenreligiosität« und zu Webers »Verhältnis zu Tolstoi und Dostojewski« und ein Überblick über die Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Gebrauchs der Redewendung von der »christlichen Brüderlichkeit«, welcher auch zum Nachdenken über den russischen Sonderweg anregt, der anscheinend noch nicht an sein Ende gelangt ist. Schließlich geht es um den Widerstreit der Werte, um den laut Weber immerwährenden, nimmer zu schlichtenden Kampf unterschiedlicher Lebensordnungen und ihrer konfligierenden sittlichen Ansprüche, in die wir hineingestellt sind. Es wird gezeigt, wie bei Weber beides nebeneinandersteht: das Pathos der Entscheidung, des großen Entweder/Oder, und die Überzeugung, dass es dieses Entweder/Oder nicht Ein für Allemal geben kann, weil es in der ethisch irrationalen Welt eben immer wieder darauf ankomme, die möglichen bösen Folgen guten Handelns und die guten Folgen bösen Handelns zu taxieren und einzusehen, dass mit lautstarkem Moralisieren wenig geholfen ist, wenn es ums kluge Wählen geht – weil, so die abschließende Sondierung des Bandes, die Moral leider auch zu Bösartigkeiten gegen ihren eingebauten Feind Unmoral neigt.
T. zeigt: Max Weber hat Fragen gestellt, die auch heute alle Denkenden und Fühlenden bewegen; er hat Antworten gegeben, die wir gut gebrauchen können; und sein Leben und Werk laden dazu ein, sie zu finden, zu kritisieren, weiterzuentwickeln und handelnd zu beherzigen.