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Ausgabe:

April/2016

Spalte:

314-315

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Döbler, Marvin

Titel/Untertitel:

Die Mystik und die Sinne. Eine religionshistorische Untersuchung am Beispiel Bernhards von Clairvaux.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013. 251 S. = Beiträge zur Europäischen Religionsgeschichte, 2. Geb. EUR 75,00. ISBN 978-3-525-54019-0.

Rezensent:

Kristin Skottki

Wie der Autor dieser Untersuchung, Marvin Döbler, selbst immer wieder anmerkt, sind wohl nur wenige mittelalterliche Gelehrte so ausführlich von historisch und theologisch arbeitenden Mediävis­ten untersucht worden wie Bernhard von Clairvaux; nicht zuletzt auch wegen der hervorragenden Quellenlage, deren editorische Aufbereitung vor allem Dom Jean Leclercq zu verdanken ist. Ein solcher Befund stellt für Nachwuchswissenschaftler allerdings eine besondere Herausforderung dar, macht er es doch notwendig, der wissenschaftlichen Gemeinschaft den eigenen, innovativen Zugang zum Forschungsgegenstand aufzuzeigen. D. ist das in besonderer Weise gelungen, denn er nähert sich in der erweiterten Fassung seiner Dissertation von 2010 den mystischen Texten Bernhards mit einem dezidiert religionsgeschichtlichen Ansatz. Dieser verdankt sich nicht zuletzt den Bemühungen von D.s Doktorvater, Christoph Auffarth, um die Etablierung einer »Europäischen Religionsgeschichte« (ERG) als einer konsequenten Weiterentwicklung der kulturgeschichtlich geprägten Forschungen der sogenannten »religionsgeschichtlichen Schule« innerhalb der »liberalen (evangelischen) Theologie« zu Beginn des 20. Jh.s.
Bedenkt man, dass dieser Forschungsansatz noch relativ jung ist und seine hermeneutische Relevanz erst noch gegen andere, gängigere Zugangsweisen der Theologie, Geschichtswissenschaft und Religionswissenschaft unter Beweis stellen muss, überrascht es nicht, dass D. im ersten und zweiten Kapitel seiner Arbeit ausführlich (immerhin 72 Textseiten umfassend) über die verschiedenen methodischen Ansätze und inhaltlichen Zugänge zum Thema Mystik reflektiert und sich dabei auch und gerade an den Klassikern der religionsgeschichtlichen Schule abarbeitet. Ob allerdings das ausführliche Referat der Positionen von nicht weniger als elf einflussreichen Theologen und Religionswissenschaftlern seit dem Beginn des 19. Jh.s wirklich notwendig für diese Arbeit ist, sei einmal dahingestellt. Denn bereits in seinen der Untersuchung vorangestellten Thesen verweist D. auf einen stark literaturwissenschaftlich geprägten, neueren Mystikbegriff, den er an anderer Stelle als »polyphonen Diskurs über besondere religiöse Erfahrung« (82 f.) definiert, und der somit viele der älteren Positionen zu Recht als überholt beziehungsweise wenig erkenntnisfördernd erscheinen lässt.
Kapitel 3 und 4 stellen die eigentlichen Analysekapitel dieser Un­tersuchung dar, obwohl D. auch hier immer wieder theoretische Überlegungen und wissenschaftsgeschichtliche Positionierungen einfließen lässt. So legt er überzeugend dar, warum es sinnvoll sein könnte, sich einem der wichtigsten mystischen Textkorpora Bernhards, den Hoheliedauslegungen (»Sermones super cantica«), mit den Methoden des close reading und der thick description anzunähern, da nur so die eigene Sprach- und Bilderwelt Bernhards – die »religiöse Objektebene« – angemessen erfasst werden könne. Während D. in diesem Kapitel im Grunde eine recht klassische, aber auf jeden Fall gelungene Textanalyse bietet, kommt das Innovationspotential seiner Arbeit vor allem im vierten Kapitel zum Vorschein. Dort versucht er, »Bernhards aisthetische Strategie nachzuzeichnen, mit der er sein Körperkonzept und die daraus folgenden epistemologischen Konsequenzen in der Liturgie und in der Gestaltung des Monasteriums realisieren will« (164). Für diesen Teil wird das Quellenkorpus unter anderem um Bernhards »Sermones de diversis« erweitert, aber nur um auf diese Weise den Kontext der Hoheliedauslegungen noch besser konturieren zu können. Am Ende zeigt sich so noch einmal in aller Deutlichkeit, dass die mystischen Texte Bernhards, insbesondere die »Sermones super cantica«, ihren Ort allein im Kloster haben, da Bernhard das richtige Verständnis und sinnliche Erfassen des göttlichen Logos allein wohlgeübten Mönchen zutraut. Somit bestätigt D. nochmals, dass Bernhard zumindest in den Texten, die sich nicht explizit an die Laienwelt außerhalb des Klosters richten, ganz klar eine monastische mystische Theologie vertritt, die sich aber gerade nicht mit den üblichen Vorstellungen von leibfeindlicher Askese, häretischer Vereinzelung oder auch mit erotisch aufgeladenen unio mystica-Schwelgereien einfangen lässt. Er kommt daher zu folgendem Fazit:
»Gotteserfahrung ist [bei Bernhard] als Erkenntnis angelegt, die heilsgeschichtlich eingeordnet wird. Sie beginnt beim Körper, bei der Selbstbetrachtung der Seele und endet jenseits des Diskursiven. Die Seele wird metaphorisch zum Körper, ihre Sinne – analog den Körpersinnen – versuchen, Gott zu fassen. […] Das Kloster wird als körperlicher Rahmen des Weges zu Gott verstanden.« (212.214)
Mit seiner Untersuchung kann D. also nicht nur zu einem tieferen Verständnis der mystischen Texte Bernhards beitragen, sondern auch überzeugend darlegen, wie neue methodische Ansätze aus unterschiedlichsten Fachdisziplinen dabei helfen können, gängige Ansichten und »Meistererzählungen« der Religionswissenschaft und Theologie mit Hilfe »kanonischer« Texte des europäischen Mittelalters in Frage zu stellen. Außerdem sei noch darauf hingewiesen, dass dieses Werk in einer eleganten und eingängigen Wissenschaftsprosa verfasst ist und man als Leser besonders dankbar dafür sein kann, dass Bernhard nicht nur immer wieder ausführlich im Original zitiert wird, sondern D. auch stets eigene, sehr gelungene Übersetzungen mitliefert, wodurch ein besonders ho­hes Maß an Nachvollziehbarkeit erreicht wird.