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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

288-289

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Stolz, Jörg, Könemann, Judith, Schneuwly Purdie, Mallory, Englberger,Thomas, u. Michael Krüggeler

Titel/Untertitel:

Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-)Glaubens.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2014. 281 S. = Beiträge zur Pastoralsoziologie, 16. Kart. EUR 32,30. ISBN 978-3-290-20078-7.

Rezensent:

Sabine Hermisson

Der vorliegende Band präsentiert die Ergebnisse eines mehrjährigen empirischen Forschungsprojekts zu Religion und Spiritualität in der Schweizer Bevölkerung, das in Kooperation von dem Religionssoziologen Jörg Stolz (Lausanne) und der Praktischen Theologin Judith Könemann (St. Gallen, heute Münster) sowie den Religionssoziologen Mallory Schneuwly Purdie und Thomas Englberger (beide Lausanne) und Michael Krüggeler (Münster) durchgeführt wurde. Der Band versteht sich als Fortsetzung zweier großange-legter Studien zur Religiosität in der Schweiz (Dubach/Campiche, Jede(r) ein Sonderfall?, 1993, Dubach/Fuchs, Ein neues Modell von Religion, 2005). Die aktuelle Analyse gründet sich auf eine Mixed-Methods-Erhebung aus den Jahren 2008/9 mit 1229 quantitativen Fragebögen sowie 73 qualitativen Interviews.
Der Titel »Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft« ist programmatisch. Die Autoren setzen einen in den 1960er Jahren sich vollziehenden Wechsel vom »Regime der Industriegesellschaft« zum »Regime der Ich-Gesellschaft« voraus, mit dem die Ideen von Subjektivität, Freiheit und Selbstbestimmung der Aufklärung zum bestimmenden Lebensgefühl der Menschen wurden und das Individuum zur Letztinstanz von Entscheidungen aller Art (einschließlich religiöser) avancierte. Vor diesem Hintergrund vertreten die Verfasser eine Theorie religiös-säkularer Konkurrenz, wonach sowohl religiöse als auch säkulare Anbieter um gesellschaftliche Macht sowie individuelle Nachfrage konkurrieren.
Aus der Fülle der empirischen Daten differenzieren die Autoren vier Typen des (Un-)Glaubens. Als institutionellen Typ (17,5 %) beschreiben sie Personen aus den katholischen und reformierten Kerngemeinden sowie aus evangelischen Freikirchen, die dem christlichen Glauben und der religiösen Praxis im eigenen Leben einen hohen Stellenwert beimessen.
Der alternative Typ (13,4 %) umfasst Menschen mit holistischen und esoterischen Glaubensansichten und Praktiken. Der distanzierte Typ (mit 57,4 % die größte Gruppe) verfügt zwar über gewisse religiöse Vorstellungen und Praktiken, denen jedoch im persönlichen Leben keine große Bedeutung zukommt. Dem säkularen Typ (11,7 %) werden Menschen ohne religiöse Glaubensüberzeugungen und religiöse Praxis zugeordnet. Unberücksichtigt bleiben in dieser Studie Mitglieder nichtchristlicher Religionen und religiöser Minderheiten.
Die einzelnen Typen werden in Subtypen weiter differenziert (z. B. Institutionelle in Etablierte und Freikirchliche oder Säkulare in Indifferente und Religionsgegner) und werden konkretisiert in Bezug auf ihre Glaubensüberzeugungen und spirituelle Praxis, ihre Wertvorstellungen sowie ihre Wahrnehmung und Bewertung von Religion. Von früheren Typenbildungen unterscheidet sich der vorliegende Entwurf vor allem dadurch, dass er nicht nur Hochreligiöse erfasst, sondern auch bisher vernachlässigte Gruppen mit einschließt.
Indem die Autoren die Frage nach Religiosität und Spiritualität mit der Differenzierung der beschriebenen vier Typen beantworten, unterscheiden sie sich explizit von den drei gegenwärtig be­kanntesten Theorien zum religiösen Wandel: der Säkularisierungstheorie, der Individualisierungstheorie sowie der Markttheorie. Die Autoren stellen vielmehr dar, dass sich alle drei Phänomene gleichzeitig vollziehen: die Abnahme von Religiosität bzw. Spiritualität, eine tiefgreifende Individualisierung in sämtlichen re­ligiösen Milieus sowie die deutliche Zunahme religiös-spiritueller Konsumorientierung. Den Schlüssel zum Verständnis dieser facettenreichen Entwicklung sehen sie im Übergang zur Ich-Gesellschaft und zur zunehmenden religiös-säkularen Konkurrenz. Der Rückgang der Prägekraft religiöser Normen und der Anstieg ma-terieller und zeitlicher Ressourcen eröffneten für Individuen die Möglichkeit, sich als Nachfragende auf einem Markt zu verhal-ten, auf dem religiöse Güter nur ein Angebot unter vielen anderen sind.
Die vorliegende Studie zeichnet sich aus durch die große Menge quantitativer, aber auch qualitativer Daten, die der Beschreibung des religiösen Wandels zugrunde liegt, durch sorgfältige Methodik und klare Definitionen. Die Schilderung der aktuellen religiös-spirituellen Landschaft besticht durch die mit der Typenbildung gegebene Mehrdimensionalität, die Elemente bestehender Theorien überzeugend aufzunehmen sowie Einseitigkeiten zu korrigieren vermag. Wenngleich die Ergebnisse auf Daten aus der Schweiz basieren, ist die Typenbildung auch über die Grenzen der Schweiz hinaus plausibel und relevant.