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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

267-269

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hein, Martin

Titel/Untertitel:

Theologie in der Gesellschaft. Aufsätze zur öf­fentlichen Verantwortung der Kirchen. Hrsg. v. F. Hofmann u. K. Waldeck.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. XI, 393 S. m. Abb. Kart. EUR 34,00. ISBN 978-3-374-03904-3.

Rezensent:

Axel Noack

Der etwas hausbackene Titel des Buches hätte mich nicht zur Lektüre verführt. Es war ganz eindeutig der Name des Autors der hier versammelten Beiträge: Martin Hein, Bischof der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck.
Die beigefügte Bibliographie H.s lässt nach der Auswahl der im Buch versammelten Texte fragen. Auch wenn es die Herausgeber dem Leser nicht sonderlich einfach machen: Sie haben eine gute und einleuchtende Auswahl getroffen, wenn es darum geht, H. mit den ihn bewegenden Themen zu Wort kommen zu lassen. Neben der Bibliographie ist es vor allem der als »Epilog« abgedruckte Text über H.s Begegnungen mit Bultmanns Jesusbuch, der eine Art theologische Autobiographie H.s darstellt. Eine mehr als gelungene Einführung in den Band gibt das Geleitwort des Marburger Systematikers Dietrich Korsch.
Die Herausgeber vermerken zwar schon in ihrem Vorwort, dass hier »ein Redemanuskript« neben dem »elaborierten theologischen Essay« stünde, lassen aber den Leser mit dieser Feststellung im Wesentlichen allein. Sie geben keinerlei Hinweise über den Zweck und die Veranlassung zu der Entstehung der Texte. Einzig im Inhaltsverzeichnis wird angegeben, in welchem Jahr ein Text veröffentlicht wurde. Mit Hilfe dieser Kenntnis lässt sich die Suche nach dem Beitrag in der Bibliographie auf eine Gruppe eingrenzen. Drei der Texte sind bisher unveröffentlicht geblieben und tauchen also in der Bibliographie nicht auf. Erläuternde Fußnoten zu jedem der veröffentlichten Texte wären sehr hilfreich gewesen.
Neben dieser editorischen Schwäche ist der Band aber sehr zu begrüßen. Die Bibliographie, die auch kleinste Beiträge im kirchlichen Sonntagsblatt und bischöfliche Synodalberichte nachweist, umfasst 267 Titel aus einem Zeitraum von 30 Jahren. Die im vorliegenden Band publizierten Beiträge hingegen entstammen – bis auf zwei Ausnahmen – ausschließlich aus den Jahren 2001 bis 2012 und fallen damit in die Zeit des bisherigen Bischofsamtes von Martin Hein. Texte, die im Bischofsamt entstehen, unterliegen besonderen »Produktionsbedingungen«. In aller Regel muss ihr Verfasser sich sehr schnell und vor allem kurzfristig auf ein Thema einlassen, die nötigen Hintergründe sondieren, den Text verfassen und dann möglichst schnell beiseitelegen, weil ein neues, oft ganz anders gear tetes Thema obenauf liegt. Auch wenn ein Bischof über manche Hilfsmöglichkeiten bei Analyse und Recherche verfügt, der Druck, schnell etwas fertig zubekommen, ist enorm und mit ihm wächst in der Regel die Sehnsucht, einmal gründlich und »mit Muße« sich einem Thema widmen zu können. Den hier vorgelegten Arbeiten ist die schnelle Machart nicht anzumerken. Im Gegenteil: Gerade mit dem Wissen über diesen Hintergrund lässt sich bescheinigen: Hier liegen gründliche und lesbare Texte vor, die allesamt zu den angesprochenen Themen wirklich etwas beizutragen haben.
Das liegt ganz sicher daran, dass – mit Ausnahme der medizin-ethischen Texte – die anderen Themen auf eine lange Vorgeschichte in der wissenschaftlichen Biographie H.s zurückgreifen können. Und: Es zeigt sich in allen Beiträgen seine Freude am Diskurs. »Die bleibende Modernität des Protestantismus zeigt sich in seiner Fähigkeit, den Diskurs nicht nur als notwendiges Übel zu ertragen sondern als für uns Menschen wesentlich zu begreifen.« (180)
Die Herausgeber haben die Texte auf vier Themenbereiche aufgeteilt. Im Blick auf die bio- und medizinethischen Beiträge zu der aktuellen Debatte ist das einleuchtend. Besonders aber der vierte Abschnitt, überschrieben mit dem Titel der kirchlichen Mitarbeiterzeitschrift der 1960er Jahre »Kirche in der Zeit«, gerät stärker zu einem »Sammelbecken«.
Im Band sind wichtige Beiträge zu folgenden Schwerpunkten zu finden: Kirchengeschichte, vor allem zur Reformationsgeschichte mit Fokus auf die kurhessischen Besonderheiten; Bekenntnis, Be­kenntnisbindung und Notwendigkeit alte Spaltungen zu überwinden (Union); Bildungsverantwortung der Kirche, besonders im Blick auf religiöse Bildung und Erziehung; theologische Grundlagen kirchenleitenden Handelns (Bischofsamt, synodale Verantwortung); Gestaltung der kirchlichen Arbeit mit Fokus auf die Kirche in ländlichen Gebieten, also vom Bleiben der Kirche »in der Fläche«; Fragen der gesellschaftlichen und staatsrechtlichen Einordnung der Kirche und der theologischen Fakultäten; Bestimmung des Verhältnisses von »evangelischer Identität« und ökumenischer Of­fenheit, bis zur Frage des Miteinanders verschiedener Religionen in einer Gesellschaft; medizin- und bioethische Fragen besonders im Blick auf Lebensanfang und Lebensende, aber auch zum Verhältnis von Arzt und Patient.
Wie ein roter Faden zieht sich dabei durch alle Beiträge das, was in dem Aufsatz »Der Protestantische Gestaltungsimpetus in der Entwicklung Interkultureller Gesellschaften« expressis verbis am Beispiel des Neuen Testamentes (Röm 12,18), an den Invokavitpredigten Luthers, an Schleiermachers »Diskurstheologie« und an den »protestanischen Wurzeln der sozialen Marktwirtschaft« (Freiburger Kreis) exemplarisch beschrieben wird, dass nämlich der Protes­tantismus für eine »auf Frieden und Verständigung angelegte Weltoffenheit« stehe (312). Das ist eine steile These, besonders wenn sie von einem ausgesprochen wird, der die interkonfessionellen Verwerfungen der Reformationszeit und deren Folgen genauestens kennt und vor Augen hat.
Die reformationsgeschichtlichen Themen werden auf dem kurhessischen lokalen Hintergrund (Marburger Religionsgespräch von 1529, Realpolitik des Landgrafen Philipp von Hessen) betrachtet und besonders das Marburger Religionsgespräch – im Band mehrmals herangezogen – erfährt mit der Betonung der salvatorischen Klausel des 15. Artikels: »so soll doch jede Partei der anderen, soweit es das Gewissen nur zulässt, christliche Liebe erweisen, und beide Parteien Gott den Allmächtigen fleißig bitten, dass er uns durch seinen Geist das richtige Verständnis bestätigen wolle. Amen.« eine Interpretation, die Marburg in eine Linie mit den Unionsbemühungen des 19. Jh.s, ja bis hin zur Begründung der EKD und deren Kirchwerdung stellt.
Es ist deutlich, wie sich der heutige kurhessische Bischof in diese Kette der Einigungsbestrebungen einreiht. Seine eigenen Bemühungen um die UEK (und deren Beitrag zu Gelingen der EKD) und um das »Verbindungsmodell zwischen EKD, UEK und VELKD« sind ja der interessierten Öffentlichkeit bekannt. In den hier veröffentlichten Texten verdeutlichen sie deren theologische und historische Grundlegung und ziehen diese über die innerkirchlichen konfessionellen Fragen bis hin zu den Themen der kirchenleitenden Verantwortung und der Begründung des evangelischen Bischofsamtes aus.
Es ist das besondere Verdienst dieses Sammelbandes, etliche Studien zu diesen Fragen erneut zugänglich zu machen. In ihnen wird eine Stimme hörbar, die im deutschen Protestantismus nicht überhört werden darf. Sie leistet einen wesentlichen Beitrag zu den immer noch brennenden Fragen von Konfession und Bekenntnis im Blick auf die EKD und ihr Kirchesein. Es gelingt H., aus Liebe zu seiner kurhessischen Heimat aufzuzeigen, welchen Beitrag die kurhessische Kirchengeschichte und die dort versammelten Erfahrungen für den Zusammenhalt der ganzen Evangelischen Kirche in Deutschland leisten kann und leisten will.