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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

253-256

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Moltmann, Jürgen

Titel/Untertitel:

Der lebendige Gott und die Fülle des Lebens. Auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2014. 232 S. Geb. EUR 19,99. ISBN 978-3-579-08173-1.

Rezensent:

Heiko Schulz

Mit diesem Buch legt Jürgen Moltmann den dritten Band eines Publikationsprojektes vor, dessen Grundlagen er in Der Geist des Lebens. Eine ganzheitliche Pneumatologie (1991) und Die Quelle des Lebens. Der Heilige Geist und die Theologie des Lebens (1997) gelegt und in Umrissen entfaltet hat. Beabsichtigt ist, wie der Untertitel des zuletzt genannten Werkes nahelegt, der Entwurf einer »Theologie des Lebens«. Sie soll das Christentum aus dem, was als Engführung metaphysischer Abstraktion wahrgenommen wird, befreien und in jener radikalen Diesseitigkeit wiederentdecken, der die Einsicht korrespondiert, dass die christliche Kernbotschaft eine »Lebensfülle bereithält, nach der viele Menschen sich heute sehnen« (9). Heute: das ist die »moderne Welt« (9), die den Menschen über weite Strecken an atheistisch-humanistischen und materia-lis­tischen Konzepten des Lebens orientiert und in der diese – eben deshalb – »ein reduziertes Leben« (ebd.) führen und führen müssen. Um in diesem Kontext überzeugen und lebensorientierend wirken zu können, muss die christliche Theologie aus der Sicht des Verfassers zurückkehren zur biblischen Lehre vom »lebendigen Gott« Israels und d. h. zugleich: Sie muss befreit werden »aus dem Ge­fängnis der metaphysischen Definitionen […], die der griechischen Philosophie und Religionsaufklärung geschuldet sind« (10; vgl. 44). Denn nicht zuletzt unter dem Diktat der griechischen Metaphysik ist jene Daseinsreduktion möglich geworden, unter der bzw. deren Folgen der moderne Mensch leidet.
Konsequenterweise spricht das vorliegende Buch teils dia-gnostisch, teils therapeutisch. Teil eins (Der lebendige Gott: 13–76) beginnt mit einer Einleitung, die die Genese der modernen Welt aus drei charakteristischen Gegenstellungen und d. h. zugleich als in sich uneinheitliche begreift: die sogenannte laizistische Moderne in Frankreich aus der Opposition gegen die feudal-klerikale Dominanz der römisch-katholischen Kirche; die sogenannte freikirchliche Moderne der angelsächsischen Länder aus der Gegenstellung zur Staatskirche Heinrichs VIII.; und die sogenannte säkularisierte Moderne in Deutschland als »humanistische Antwort der Aufklärung auf die Schrecken des Dreißigjährigen Krieges« (17). In diesen Oppositionsbewegungen deutet sich bereits an, dass die Moderne nicht so sehr aus Religion, sondern aus Religionskritik hervorgegangen ist; paradigmatisch wird dies im Folgenden an Lessings Idealbild des religiös »genügsamen« Humanisten sowie am naturalistisch-atheistisch »reduzierten« Menschenbild Feuerbachs (19–29) gezeigt. Zwar geht M. zufolge mit der modernen abendländischen Religionskritik eine Aufwertung des diesseitigen Lebens, zugleich aber der Verlust der »transzendenten Räume dieses Lebens« (15) einher.
Dass diese Räume einerseits wiedergewonnen werden können, ohne dabei andererseits in jene Kurzschlüsse einer metaphysisch entleerten Theologie zurückzufallen, die den Reduktionismus der Moderne selbst mit verursacht hat, ist M.s feste Überzeugung. Er erläutert und begründet sie in zwei korrelativ verschränkten Argumentationsgängen, von denen der eine den Begriff des »lebendigen Gottes« (Kapitel I–III: 34–76), der andere, ausführlichere, den der »Fülle des Lebens« (Kapitel IV–VIII: 77–208) ins Zentrum rückt.
Als argumentatives Rückgrat der Überlegungen fungiert dabei Kapitel I des ersten Teils (34–43). Hier wird im Ausgang vom biblischen Zeugnis (Ps 42,3; Ps 84,3; Ps 90,2) die – zunächst widersprüchlich erscheinende – Einheit von Lebendigkeit und Ewigkeit in Gott behauptet. Sie kann M. zufolge im Anschluss an die sinnentsprechende Formel des Boethius verständlich gemacht werden, wonach »Gottes Ewigkeit […] Gottes ewiges Leben« und diese seine »unerschöpflich-schöpferische Lebensfülle« (40; Hervorh. H. S.) bedeuten. Eben weil Gott im Modus seiner schöpferischen Lebensfülle zugleich das Leben alles von ihm Geschaffenen bejaht, ist auch dieses Leben, als ein göttlich bejahtes, selber und schon an sich ewiges Leben – auch wenn dies dem natürlichen Bewusstsein widersinnig erscheint: »Alles Leben trägt den Tod in sich, sagt die allgemeine Weisheit. Alles Leben trägt seine Auferstehung in sich, sagt der lebendige Glaube.« (Ebd.) Das ewige Leben ist »dieses Leben« (39; Hervorh. H. S.), freilich nur, aber auch immer dann, wenn eine Form von Lebensbejahung denkbar ist, in der sich das Leben »aus der tiefsten Trennung« (43) durch Endlichkeit und Tod hindurch als unendliches, ergo ewiges wiederherstellt – so M. unter Berufung auf zwei eher ungleiche Gewährsmänner (Nietzsche und Hegel).
Die genuin theologisch akzentuierte Einheit von Ewigkeit und Leben fungiert hierbei als Rückgrat für M.s Neufassung der Lehre von den göttlichen Eigenschaften, in der die durch den nachhaltigen Einfluss der hellenistischen Kultur bedingten und bis heute ungelösten »Spannungen in der christlichen Gotteslehre« (44) überwunden werden können: Die Unbeweglichkeit (immutabilitas) Gottes betrifft diesen nur als Substanz; begreift man ihn als den lebendigen und d. h. zugleich »als Subjekt, dann steht dort, wo die alte Metaphysik die göttliche immutabilitas ansiedelte, seine Treue, auf die man sich verlassen kann« (45). Gott kann folglich »lieben und aus verwundeter Liebe zürnen« (46). Da er mithin zugleich ein Gott der bzw. in Beziehungen ist, kann er nicht leidensunfähig sein; das Apathieaxiom gilt nur, insoweit es sich auf das passive Ausgeliefertsein an Leiden und Tod bezieht, doch ist davon das »freiwillig« übernommene »Leiden der Liebe zu unterscheiden« (51), wie es im Kreuzestod Jesu sinnfällig wird. Ferner übt der Gott, der aus Liebe, d. h. freiwillig leidet, eben darin primär Macht über sich selbst und nicht über das Geliebte aus. Als solcher kann er nicht allmächtiger Gott im metaphysischen Sinne sein; denn dieser ist dazu verdammt, die Welt als »alles bestimmende Wirklichkeit« unter sein Joch zu zwingen. Die Macht des lebendigen Gottes besteht hingegen darin, dass er alle Dinge in liebender Selbstbegrenzung und »unendliche[r] Geduld ›trägt‹ und ihnen damit Raum schafft und Zeit lässt, um sich in Freiheit zu entfalten« (55; vgl. 59). Auch Allgegenwart ist »keine Eigenschaft göttlicher Substanz, sondern des göttlichen Subjektes« (57) als eines lebendigen; christlich heißt das, dass Gott im Gekreuzigten und Auferstandenen und d. h. primär in allen denkbaren »gottverlassenen Räumen und Situationen gegenwärtig« (58) ist. Ferner hat Gottes Allwissenheit qua providentia nichts mit einer Metaphysik der »Vorherbestimmung […] zu tun« (60); sie ist als Eigenschaft des lebendigen Gottes vielmehr mit dem Grundzug der promissio verbunden: »Vorsehung ist […] Verheißung Gottes« (ebd.). Als Lebendiger ist Gott auch nicht bildlich darstellbar: nicht deswegen, weil Gott »fern im Himmel oder im Jenseits […], sondern – weil er uns so nahe ist, dass wir keinen Abstand von ihm finden können« (63). Schließlich kann der lebendige Gott »kein andrer sein als der dreieinige« (76) – zumindest dann nicht, wenn man auch die Einheit Gottes von seiner Lebendigkeit her versteht, d. h. als Einigkeit mit sich selbst (vgl. 66 u. 70) »in Beziehung zur Vielfalt der Welt« (66). Dies zu behaupten legt der christliche Glaube von sich her, nämlich als seinerseits strukturell »trinitarische Gotteserfahrung« (67) nahe; denn diese ist als Erfahrung der Christusgemeinschaft immer zugleich Erfahrung der Gemeinschaft mit »Gott dem Vater Jesu Christi und mit Gott dem Geist des Lebens« (69). Aus der Sicht des »neuen trinitarischen Denkens« (vgl. 73), dem M. sich verpflichtet fühlt, fungiert die Trinitätslehre also nicht als »spekulative Voraussetzung für die Gottesgeschichte Christi, sondern folgt aus ihr, weil sie erst in ihr erkennbar wird« (ebd.): Da sich der lebendige Gott als solcher »in seinem Handeln treu bleibt, kann man von seinem geschichtlichen [sc. trinitarischen] Handeln auf sein ewiges Leben zurückschließen: Wie er sich uns offenbart, so ist er ›zuvor in sich selbst‹ (Barth)« (75).
Als Folge der »Selbstimmanenz des göttlichen Geistes in der menschlichen Exis­tenz« (81) qua Inkarnation ist nach christlichem Verständnis umgekehrt und analog die »Transzendenz dieses menschlichen Lebens in das göttliche Leben« (80, im Orig. teilweise kursiv) verheißen und möglich geworden: In der »Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott ist dieses endliche und sterbliche Leben ein von Gott durchdrungenes und darum zugleich ein göttliches und ewiges Leben« (79; vgl. zum Transzendenzbegriff 9 f.15.142.182.208). Glaubend hat der Einzelne an dieser Bewegung der Selbsttranszendenz teil, ihr prinzipielles Medium ist die »Freude an der göttlichen Lebensfülle« (80). Diesen Leitgedanken buchstabiert M. im zweiten Teil seines Buches im Detail aus, indem er »die Fülle des [christlichen] Lebens« als sich selbst in Richtung auf Gott sowie Um- und Mitwelt transzendierende Gemeinschaft, Freude, Freiheit, Freundschaft, Liebe, Spiritualität, Hoffnung und als Gotteslob beschreibt (vgl. Kapitel I–VIII): Das Christentum ist eine in seinen Festen gelebte »Religion der Freude« (94; Hervorh. H. S.), auch und gerade im Angesicht des Kreuzes, denn »hinter Golgatha [geht] die Sonne der Auferstehungswelt« (105) auf. Die moderne Alternative Gott oder Freiheit ist absurd, das Gegenteil ist der Fall: Der Name Gottes »verheißt Freiheit« (108; Hervorh. H. S.), wie die Exoduserfahrungen Israels nicht weniger nachdrücklich belegen als die Auferstehungserfahrung Christi oder die Freiheitserfahrung des Glaubenden in der Gegenwart eines mit der Welt sich solidarisierenden Geistes. Auch die christologischen Hoheitstitel müssen neu, nämlich als Ausdruck einer Freundesgemeinschaft zwischen Gott und Mensch interpretiert werden: Jesus wird vor allem deshalb der Menschensohn genannt, »weil er zum Freund der sündigen, kranken, behinderten, armen Menschen wird« (124). Überdies ist die alt- und neutestamentlich überlieferte Geschichte Gottes mit den Menschen die »Geschichte einer transzendenten Immanenz« (142), d. h. die einer wesentlich barmherzigen Liebe, die als solche »Liebe zum Ungleichen« ist, da hier »das Erbarmen […] nicht durch die Schönheit, sondern durch das Elend erweckt« (143) wird; die spezifisch christliche Gotteserfahrung ist so gesehen Teilhabe an der Fülle des göttlichen Lebens, in der Erfahrung, »von Ewigkeit her geliebt und bejaht zu werden« (148). Ferner schließt eine Spiritualität, die von der schöpferischen Fülle des lebendigen Gottes lebt, alle Sinne ein: Der Geist Gottes wirkt nicht »leibfeindlich, weltfremd oder unsinnlich«, sondern er »erweckt alle Sinne« (159), denn er ist der Geist des auferweckten Christus. Im Gegenzug zur »atheistisch reduzierte[n] Hoffnung« (178) Ernst Blochs insistiert der christliche Glaube an den lebendigen Gott und die Fülle des Lebens auf Möglichkeit, Sinn und Recht einer Hoffnung, die den Glauben an eine »transzendente Zukunft für die Geschichte« (179; Hervorh. H. S.) einschließt. Diesem Glauben korrespondiert ein »Veränderungswissen«, das im Sinne einer »Vernunft der Hoffnung« (187; im Orig. kursiv) Objekte und Subjekte »als Projekte einer gemeinsamen Zukunft« (ebd.) qua ewigem Leben ansieht. Schließlich gilt: »Das Leben selbst ist gut […] Wir leben, um zu leben« (196). Bei dieser Zusage behaftet der Glaube den lebendigen Gott; sie motiviert nicht nur Dank und Lobpreis für die Schönheit des Lebens, sondern sie lässt zugleich Klage und Bittgebet im Namen Jesu möglich, sinnvoll und berechtigt erscheinen, weil es »in diesem Namen verheißen ist, dass Gott sie durch die Auferstehung der Toten und die Neuschöpfung aller Dinge beantworten wird« (206).
Laut Untertitel ist M.s Buch »auch ein Beitrag zur Atheismusdebatte unserer Zeit«. Das »auch« kann kontextuell stark (im Sinne von »ein weiterer«) oder schwach (im Sinne von »zugleich«) gelesen werden. Welche Lesart als zutreffend zu gelten hat, bleibt offen. Klar ist aber, dass das Buch nur unter Voraussetzung der schwächeren Deutung hält, was es verspricht. Einerseits ist zwar richtig, dass die als Reduktionismen diagnostizierten Bestandteile moderner atheis­tischer Weltanschauungen die Negativfolie für das Unternehmen einer Wiedergewinnung der »Fülle des Lebens« unter christlichen Vorzeichen bilden. Andererseits aber werden die Protagonisten gegenwärtig dominierender Atheismusdebatten – allen voran Richard Dawkins und dessen Mitstreiter bzw. Gegner – na­mentlich nicht genannt und es fehlt jeder Hinweis auf die ent-sprechenden Debatten. Darüber hinaus sind aber auch aktuelle Gewährsleute für die Stützung von M.s Unternehmen (z. B. Ralf Miggelbrink, Lebensfülle, Freiburg 2009) nicht im Blick, sie bleiben jedenfalls unerwähnt. Ferner können selbst, ja möglicherweise ge­rade dann, wenn man das Kernanliegen des Buches teilt, eine Reihe von Analysen, die jenem Anliegen Nachdruck und Plausibilität verleihen sollen, nicht wirklich überzeugen. Das betrifft vor allem die im ersten Teil versuchte Restituierung der christlich-dogmatischen Eigenschaftslehre, die Erfahrungsnähe und Transzendenz Gottes einerseits festhalten, diese andererseits von ihren (vor allem) substanzmetaphysischen Abstraktionen und Verkürzungen be­freien will. Dies führt häufig, wie z. B. im Falle des Allmachtsgedankens (vgl. 52–56), zu Paradoxien, d. h. zu – nota bene: unauflöslich – er­scheinenden Widersprüchen, von denen als solchen M. indes nichts wissen will (vgl. 37 u. 147). Gelegentlich werden überdies Thesen vertreten, die entweder unzulässig überspitzen (z. B. 196: »Freude ist der Sinn menschlichen Lebens«) oder schlicht unzutreffend sind (z. B. 79: der Mensch »ist kein Individuum, sondern ein Gemeinschaftswesen«).
Dieser Detailkritik zum Trotz bietet M.s Buch insgesamt ein grundsympathisches, hoch engagiertes, im theologischen Kernanliegen zustimmungsfähiges und, last but not least, stilistisch schwungvolles und durchweg lesbares Plädoyer für die Wiederentdeckung einer Theologie der Lebensfülle, mit der ihr Autor ganz offenkundig jener Schlusswendung aus Hölderlins Hyperion aus dezidiert christlicher Perspektive Rechnung zu tragen sucht, die wie ein verborgenes Motto über seinen Ausführungen steht: »und einiges, ewiges, glühendes Leben ist alles« (43, vgl. 9 und passim).