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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

249-251

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Law, David R.

Titel/Untertitel:

Kierkegaard’s Kenotic Christoloy.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2013. 320 S. Geb. US$ 125,00. ISBN 978-0-19-969863-9.

Rezensent:

Claudia Welz

20 Jahre nach seiner Doktorarbeit Kierkegaard as Negative Theologian erschien die vorliegende Studie von David Law. Die damalige Betonung der apophatischen Aspekte wird nun durch eine Untersuchung der kataphatischen Aspekte der Theologie Kierkegaards ergänzt. L.s Hauptthese ist, dass Kierkegaard eine neue, originelle Art von kenotischer Christologie entwickelte (existential kenoticism), indem er das intellektuelle Problem, wie die wahre Gottheit und wahre Menschheit in der Person Christi zusammenhängen, in eine existentielle Frage an jeden Einzelnen transformierte: Willst du Christus auch in seiner Erniedrigung, seiner Demut und seinem Leiden nachfolgen?
Auf ein kurzes Vorwort, ein noch kürzeres Inhaltsverzeichnis (ohne Unterüberschriften, so dass die Komposition des Buches leider nicht ersichtlich wird) und eine Abkürzungsliste folgen sechs Kapitel à 30–90 Seiten, die Bibliographie und zuletzt der Namen- und Sachindex. Während die ersten drei Kapitel eher historisch orientiert sind, die Charakteristika kenotischer Christologie herausarbeiten und Kierkegaards Kenntnis derselben untersuchen, bieten die letzten drei Kapitel eine thematische Interpretation der Philosophischen Brocken und der Einübung im Christentum mit dem Ziel, Kierkegaards theologische Grundannahmen im Vergleich mit traditionellen Formen kenotischer Christologie ans Licht zu bringen.
Kapitel 1 trägt die Überschrift »Kierkegaard as Theologian and the Question of Kenosis« (1–33). Hier wird klargestellt, dass Kierkegaards Dogmenkritik nicht die theologische Lehre als solche an­greift, sondern lediglich »certain (mis-)understandings of doctrine« (5). So setzt Kierkegaards Verständnis Christi als absolutes Paradox die Gültigkeit des Chalcedonense voraus, verschärft aber den Ge­gensatz zwischen seiner göttlichen und menschlichen Natur. Zudem kritisiert Kierkegaard die mangelnde Aneignung der Theorie, d. h. mangelnde Orthopraxie (17). In Kapitel 1 findet sich zudem eine Übersicht über die bisherige Forschung zum Thema.
Kapitel 2 befasst sich mit »The Nature of Kenotic Christology« (34–63), indem zunächst deren Geschichte rekonstruiert und dann die gängige, vor allem von den Kirchenvätern und der lutherischen Orthodoxie geprägte Terminologie präsentiert wird, z. B. mit Verweis auf die hypostatische Union der beiden Naturen Christi und die communicatio idiomatum. Auch werden verschiedene Arten und Grade der Kenose sowie strittige Punkte wie etwa deren Dauer und Rückwirkung auf die innertrinitarischen Relationen vorgestellt. Diese »issues« dienen der Formulierung von Leitfragen zur Analyse der Werke Kierkegaards.
Kapitel 3, das längste Kapitel des Buches, ist »Kierkegaard’s Know­ledge of Kenotic Christology« (64–153) gewidmet. Hier wird in gründlicher Kleinarbeit unter Einbeziehung sämtlicher Werke Kier­kegaards eruiert, wie er die kenotischen Texte der Bibel verstand und inwieweit er sich in der Geschichte kenotischer Chris­-tologie auskannte. In den Blick kommen u. a. die Gottesknechtslieder von Jes 52–53, Hebr 5, die Evangelientexte zu Christi Versuchung, seinem Gebetskampf in Gethsemane und dem Schrei vom Kreuz. Am ausführlichsten wird der Christushymnus des Philipperbriefs behandelt, stammt der griechische Begriff kenosis doch von Phil 2,6–11. Dieser Text wird sowohl in Kierkegaards Vorlesungsmitschriften, in einer von ihm angefertigten Übersetzung ins Lateinische wie auch in zahlreichen von ihm veröffentlichten Schriften bedacht. Zwar nahm Kierkegaard keinen Bezug auf deutsche Vertreter kenotischer Christologie im 19. Jh., war aber L. zufolge wie diese vom Pietismus und der Abwehr der Christologie Hegels und Strauss’ geprägt und in einzelnen Punkten von Schelling und Martensen inspiriert (153). Die Werke von Thomasius, Liebner und Ebrard scheint er nicht gekannt zu haben, doch stand er vor denselben Herausforderungen wie seine Zeitgenossen und entwickelte unabhängig von ihnen seine eigene kenotische Chris-tologie.
Kapitel 4 untersucht die »Kenosis in Philosophical Fragments« (154–214), näherhin das Verhältnis zwischen (sokratischer, platonischer bzw. hegelianischer) Philosophie und Christentum, das Gottesverhältnis des Individuums (»Gleichzeitigkeit« mit Gott und »Glaube«) und das Verhältnis zwischen Offenbarung und Geschichte. Dabei zeigt sich, dass Kierkegaards Pseudonym Climacus den Eintritt des ewigen Gottes in die Zeit als Selbstentäußerung und Be­grenzung seiner Macht versteht und Kierkegaards kenotische Chris­tologie nicht in der Ähnlichkeit, sondern der Verschiedenheit Gottes und der Menschen gründet (214).
In Kapitel 5 kommen unter dem Titel »Kenosis in Practice in Christianity« (215–266) zusätzliche kenotische Motive zum Tragen: Christus ist Vorbild in extremster Erniedrigung (dän. Fornedrelse), die nicht nur in seiner Menschwerdung, sondern auch seinem Mitleiden mit allen Leidenden besteht (228 f.). Obwohl Christi Göttlichkeit durch seine Selbstverleugnung incognito blieb (235), erregte der Gott-Mensch als sign of contradiction Anstoß (238). Anti-Climacus’ Christologie zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass Christi Leiden als Ausdruck seiner Allmacht verstanden wird: »His omnipotence manifests itself in his powerlessness« (258), wobei seine Menschenliebe seine frei gewählte Ohnmacht motiviert (266).
Kapitel 6 bietet eine hervorragende Zusammenfassung der Er­gebnisse der Studie: »Kierkegaard’s Existential Kenoticism« (267–288) setzt die Präexistenz Christi sowie dessen Abstieg vom Himmel auf die Erde und den Übergang von der Glorie des logos asarkos zur Demütigung des logos ensarkos voraus (268 f.). Zur kenosis und ta-­peinosis kommt das psychische Leiden des von den Menschen abgelehnten Erlösers (269). Zu Recht kritisiert L. die gelegentliche Rede Kierkegaards von der »Einheit« Gottes mit einem Menschen und favorisiert die Rede davon, dass Gott ein einzelner Mensch geworden sei (270), der uns zu allen Zeiten nahe sein kann, weil er zwar »in history« existierte, »while not being of history« (275). Er leide, weil seine Liebe zu den Menschen unveränderlich sei, was die Gleichsetzung von »immutability and impassibility« (276) verbietet.
Einer der Glanzpunkte der Studie ist L.s Pointe, dass Kierkegaards Paradoxchristologie den reformierten Grundsatz finitum non capax infiniti mit dem lutherischen Prinzip neque caro extra logon neque logos extra carnem kombiniert (279). Folglich erstreckt sich Christi Menschsein nicht nur auf den status exinanitionis, sondern auch den status exaltationis (281). Anders als seine Vorgänger betrachtete Kierkegaard die menschliche Natur nicht als gottverwandt. Mit Hilfe des imago Dei-Motivs verdeutlichte er den unendlichen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch: »it is only as the single individual and as worshipper that the human being can be in kinship with God« (284).
Die Frage des Ausmaßes der Kenose bleibt offen. Sofern Christi Knechtsgestalt unentrinnbar war, spricht L. von »maximal kenosis«; andererseits neigt er zur »minimal kenosis« (277), da Christi aufopfernde Liebe für Kierkegaard Ausdruck (und nicht Aufgeben) seiner Göttlichkeit war. Dass die Möglichkeit einer »medial kenosis« nicht diskutiert wird, ist verständlich, da Kierkegaard Christi Niedrigkeit akzentuiert, aber was spräche gegen eine paradoxe Koppelung beider Aspekte, wodurch die Unsinnigkeit einer Graduierung entlarvt würde? Dass Kierkegaard seine Christologie nicht trinitarisch fundiere (282), ist nur korrekt, wenn man Die Taten der Liebe ignoriert. L.s wohlbegründeter Konklusion aber ist zuzustimmen: Kierkegaards Paradoxchristologie mündet als »radically intensified form of kenotic Christology« (286) in kenotische Chris­tusnachfolge. L sei gratuliert zu dieser gelehrt-gediegenen Studie!