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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

912–914

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Keller, Winfrid

Titel/Untertitel:

Gottes Treue - Israels Heil. Röm 11,25-27 - Die These vom ,Sonderweg’ in der Diskussion.

Verlag:

Stuttgart: Kath. Bibelwerk 1998. XVII, 329 S. 8 = Stuttgarter Biblische Beiträge, 40. Kart. DM 89,-. ISBN 3-460-00401-0.

Rezensent:

Wolfgang Kraus

Bei der hier zu besprechenden Arbeit handelt es sich um eine Dissertation, die von Lorenz Oberlinner betreut und von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Freiburg 1997 angenommen wurde.

Winfrid Keller hat es sich zur Aufgabe gemacht, die durch Franz Mußner angestoßene These, wonach Israel auf einem ,Sonderweg’ gerettet werde, zu untersuchen und deren Rezeption in der gegenwärtigen Diskussion nachzugehen. Textliche Grundlage ist die Passage Röm 11,25-27, in der Paulus davon spricht, daß ,ganz Israel’ gerettet werde, wenn der ,Retter aus Zion’ komme, jedoch keine expliziten Aussagen über die Art und Weise dieser Rettung macht. Die Frage, die damit notwendigerweise entsteht, lautet, ob neben dem kleinen Teil der Juden, die Jesus bereits als Messias bekennen, nach der Position des Paulus auch die Mehrzahl des atl. Gottesvolkes durch missionarische Predigt und Glauben an Christus zum endzeitlichen Heil gelangen oder ob es für sie einen anderen Weg geben wird. Die hiermit angerissenen Fragen reichen bis in die Fundamente christlicher Theologie, steht damit doch nicht nur die leidige und oft überbewertete Frage der Judenmission auf dem Spiel, sondern die grundsätzlichen Fragen der Rettung aller Menschen durch Christus (,solo Christo’) und der Heilsnotwendigkeit des Glaubens (,sola fide’) - wobei es sich hier nicht nur um eine kontroverstheologische Fragestellung zwischen den Kirchen der Reformation und der röm.-kath. Kirche, sondern um eine Grundfrage des Neuen Testamentes handelt.

Im ersten Teil (2-65) stellt K. wichtige Arbeiten zu Röm 11,25-27 dar, wobei er zwar keine Vollständigkeit erreicht hat, das Spektrum der Positionen jedoch in etwa abgedeckt ist. Am Ende dieses Teils werden Fragen formuliert, die die weitere Untersuchung leiten werden.

Im zweiten Teil der Arbeit (67-287) wendet sich K. der Diskussion der exegetischen Fragen zu Röm 11,25-27 zu. Er geht dabei auf das Problem des ,Mysterions’ ein, von dem Paulus in Röm 11,25 spricht, und behandelt anschließend die Frage des Verhältnisses der paulinischen Heidenmission zur Erwartung der Rettung Israels. Es folgt eine Untersuchung des sog. Ölbaumgleichnisses und der Aussage, ,ganz Israel’ werde gerettet werden. Der exegetische Teil wird abgeschlossen durch eine Zusammenfassung, in der K. die gewonnenen Ergebnisse auf die Ausgangsfragen bezieht. Seine Lösung entfaltet er in zwei Richtungen: 1) Die endzeitliche Rettung ,ganz Israels’ meint die numerische Vollzahl; d. h. alle, die jemals zu Israel gehörten, von Abraham angefangen bis zur Endzeit, werden des Heils teilhaftig. Diese Rettung geschieht mit der Ankunft des Parusie-Christus, der "Verstockung und Unglaube Israels" überwinden und es "unmittelbar zur ,Schau’ ..., also zur Anteilhabe am eschatologischen Heil" führen wird (279). 2) K. möchte den Weg, auf dem Israel gerettet wird, weder als "Sonderweg", noch als "parallelen Heilsweg" bezeichnen, da dies auf christologischer Ebene Unklarheiten impliziere. Er spricht deshalb von einem "eigenständigen Heilsweg" Israels, wobei die Eigenständigkeit darin besteht, daß die Erwählung in den Vätern und die ihnen gegebenen Verheißungen "soteriologische Wirkkraft" haben und somit das Heil Israels in der "Treue Gottes", die durch Christus bestätigt wird, verbürgt ist (283). Demgegenüber erscheint dann der Weg der Kirche zum Heil als ein "zusätzlicher Heilsweg" (283), insofern die Kirche in den "unwiderruflichen Bund Gottes mit seinem Volk hineingenommen" sei (284).

In einem letzten Teil (289-310) untersucht K. die Rezeption von Röm 11,25-27 in kirchenamtlichen Verlautbarungen.

Der Autor hat das Problem, wie Röm 11,25-27 zu verstehen sei, in seinem exegetischen Teil insgesamt methodisch und inhaltlich sachgemäß dargestellt. Daß seine Lösung weitgehend mit der von mir selbst (WUNT 85, 1996; KuI 12, 1997, 134-147) vertretenenen konvergiert, ist ihm erst nach Abschluß des Manuskriptes klar geworden (vgl. 280 Anm.1). Abgesehen von exegetischen Details scheinen mir folgende Punkte weiterer Nachfrage wert:

1) Weder von Paulus noch von anderen Texten des NTs her läßt sich eine Hineinnahme der Kirche in den Bund Gottes mit Israel belegen. Zum einen sind es verschiedene Bundesschlüsse, auf die Paulus Bezug nimmt (Röm 9,4: diathekai), zum andern spricht Paulus vom Abrahambund als dem Bund, der auch die glaubenden Heiden umschließt.

2) Im dritten Teil der Arbeit spielen neben Texten aus der katholischen Kirche auch die EKD-Studie Christen und Juden von 1975 und der Synodalbeschluß der Rheinischen Kirche von 1980 eine Rolle. Dies ist grundsätzlich erfreulich und soll nicht unterschlagen werden. Daß man jedoch in einer 1998 veröffentlichten Arbeit alle seit 1980 erarbeiteten Stellungnahmen der Evangelischen Kirche übergeht, darunter auch die EKD-Studie Christen und Juden II von 1991, die explizit auf das anstehende Thema Bezug nimmt, ist schon ein gewisses Manko. Es wäre auch interessant gewesen zu zeigen, daß die kirchlichen Stellungnahmen eine ganz eindeutige Denkrichtung aufweisen, auch wenn exegetische Beiträge einzelner Theologen mitunter dahinter zurückbleiben. Insofern ist der Feststellung zu widersprechen, die Erklärungen der evangelischen Seite seien "nicht unbedingt repräsentativ für diese Kirchen" (308).

3) Unzureichend erscheint mir aber vor allem die Einzeichnung der Problemstellung in das Gesamtgeflecht paulinischer, neutestamentlicher und schließlich gesamtbiblischer Theologie. Hier hat sich die sehr enggefaßte Problemstellung m. E. ungünstig ausgewirkt. Zumindest die Frage der theologischen Relevanz von Röm 11,25-27 im Kontext weiterer Aussagen des Apostels (etwa Gal 3, 1Thess 2, Gal 4,21-31) hätte explizit diskutiert werden sollen. Damit wäre die Frage innerbiblischer theologischer Sachkritik nicht zu umgehen gewesen. Mit der Feststellung, daß Paulus in Röm 11,25-27 von der Rettung ,ganz Israels’ - ganz gleich, ob auf einem ,Sonderweg’ oder dem ,Normalweg’ - spricht, ist erst die Hälfte gewonnen. Handelt es sich um den letzten, vielleicht psychologisch begründeten, aber gleichwohl untauglichen Versuch, innerhalb eines an divergierenden Linien reichen Kontextes (Röm 9-11) doch noch mit der Frage der Ablehnung Jesu durch die Mehrheit Israels zurechtzukommen (Strecker, Räisänen u. a.)? Also eine Lösung mit der Brechstange? Oder liegt der Schluß von Röm 11 im Gesamtgefälle von Röm 9-11? Und stellt Röm 9-11 nur die Diskussion einer biographisch bedingten Frage des Paulus dar oder handelt es sich um die Spitze dessen, was aufgrund der Rechtfertigungslehre des Apostels gesagt werden muß? Dann wären wir mit diesen Ausführungen im Zentrum seiner Theologie. Wie aber sind dann die übrigen Äußerungen des Paulus über Israel einzuordnen? Und wie ist das Verhältnis zu anderen ntl. Positionen zu bestimmen, in denen gerade nicht von der Rettung ganz Israels gesprochen wird? Und schließlich: die christliche Bibel umfaßt die Schriften Alten und Neuen Testaments. Wie sind die paulinischen Aussagen und die (teilweise konträren) Aussagen anderer ntl. Autoren im Kontext der gesamten Bibel zu betrachten?

Wenn sich nicht im Kontext der paulinischen Rechtfertigungstheologie die theologisch-sachliche Notwendigkeit der Aussagen in Röm 11,25-27 (und auch 11,28 ff.; 15,7-13) erweisen läßt, dann ist deren (psychologischer o. ä.) Marginalisierung nichts Entscheidendes entgegenzusetzen. Dann sind auch die Beliebtheit dieses Textes und das Insistieren darauf, wie es sich bei den am christlich-jüdischen Gespräch Beteiligten häufig findet, unschwer auszuhebeln. Der Streit geht also letztlich darum, ob - wovon ich überzeugt bin - Röm 11,25-27 im Kontext paulinischer, neutestamentlicher und schließlich gesamtbiblischer Aussagen als sachgemäßer Ausdruck des Evangeliums von Jesus Christus anzusehen ist - mit allen Konsequenzen für Kirche und Theologie.