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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

241-243

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Oravecz, Johannes Miroslav

Titel/Untertitel:

God as Love. The Concept and Spiritual Aspects of Agapé in Modern Russian Religious Thought. Foreword by P. Valliere.

Verlag:

Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans 2014. XVIII, 518 S. Kart. US$ 40,00. ISBN 978-0-8028-6893-0.

Rezensent:

Reinhard Slenczka

»Lebendige religiöse Erfahrung als der einzige legitime Weg, das Dogma (die Lehre der Kirche) zu erfassen […]« – dieses Zitat (267) aus dem theologischen Hauptwerk, »Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit« und die Persönlichkeit des russischen Theologen und Naturwissenschaftlers Pavel A. Florenskij (1882 – ermordet 1934, rehabilitiert 1958 bzw. 1959) können als Leitmotiv dieses an Inhalt und daher ebenso an Umfang eindrucksvollen Buches von Johannes Miroslav Oravecz angesehen werden. Es handelt sich um die Dissertation eines katholischen Theologen (Jg. 1970) am Päpstlichen St. Anselm Athenäum in Rom.
Behandelt werden die russische Theologie und die sie begleitende religiöse bzw. christliche Philosophie des 19. und angehenden 20. Jh.s. Wer sich auf diesem Gebiet auskennt, kann nur staunen, in welchem Umfang, aber auch in welcher Tiefe die weitgehend verborgenen und sprachlich verschlossenen Schätze russischer Theologie gesammelt und ausgewertet wurden. Das Register mit den Namen kann schon als Nachschlagewerk dienen. Zu vielen Namen finden sich auch kurze biographische Hinweise im Text. In dieser Rezension kann das auch annähernd nicht ausgeführt werden. Daher sollen in dem gebotenen Rahmen einige inhaltliche Hinweise zur Eigenart und Bedeutung dieses Werks gegeben werden:
Der zeitgeschichtliche Rahmen reicht von der Mitte des 19. Jh.s bis zur zweiten Hälfte des 20. Jh.s. In der Mitte stehen natürlich die Ereignisse des Zusammenbruchs des Zarenreiches 1916 und die Oktoberrevolution von 1917. Am Anfang dieses Zeitraums stehen die Spannungen zwischen staatskirchlicher Autorität und der sogenannten Intelligencija mit ihrer Kirchenkritik: »Die russische Kirche befindet sich im Zustand der Paralyse« (F. M. Dostojevskij, 1821–1881), und es gibt »Kirche neben den Kirchenmauern« (V. V. Rozanov, 1856–1919). In der durchaus fruchtbaren Spannung zwischen »Schuldogmatik« und der aufkommenden religiösen Philosophie mit ihrer Laientheologie entwickelt sich eine reiche Blüte theologischer Publikationen. Dazu werden die dogmatischen Handbücher der Schuldogmatik vorgeführt und ebenso die Hauptwerke der Laientheologie. Am Rande sei erwähnt, dass ein Thema in den Auseinandersetzungen zwischen den beiden Hauptrichtungen auch die Einführung der historischen Methode in die Theologenausbildung durch den (staatlichen) Oberprokuror des Heiligen Synods, Graf N. A. Protasov (1798–1855), im Jahr 1836 steht. Auf den »Petersburger religiös-philosophischen Versammlungen« von 1902 bis 1903 kam es zu einem hochinteressanten Austausch über Kontroverspunkte zwischen Staatskirche und Intelligenz, darunter war auch das Thema »Über die Dogmenentwicklung«. Die historische Betrachtungsweise kirchlicher Lehre als geschichtliche Entwicklung ist bis heute in der Orthodoxie umstritten, was in ähnlicher Weise seit dem Modernismusstreit auch für die römisch-katholische Theologie gilt. Im Protestantismus hingegen ist das unreflektiert herrschendes Dogma.
Unter der bolschewistischen Revolution brachen diese hoffnungsvollen Ansätze zusammen. Der eine Teil der Vertreter der »Laien und der kirchlich modernen Theologie« wurde ins Ausland verbannt und gründete dort eigene Ausbildungsstätten wie das Institut de Théologie Orthodoxe St. Serge in Paris und St. Vladimirs Orthodox Theological Seminary, jetzt: Yonkers NY. Die in der Sowjetunion Verbliebenen kamen in der Mehrzahl um, so auch der erwähnte P. A. Florenskij.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 und der Öffnung Russlands ist für die Erforschung der russischen Theologie eine neue Epoche eingetreten. Die einschlägige Literatur ist nicht nur in westlichen Spezialsammlungen, besonders in Rom, Paris und Helsinki zugänglich, sondern nun auch, soweit erhalten, in russischen Bibliotheken und Archiven. Im Literaturverzeichnis und in den Anmerkungen des Buchs zeigt sich, in welchem Maß in Russland Nachdrucke alter Werke, gedruckte Übersetzungen (zahlreiche ungedruckte in Maschinenschrift gab es schon vorher) und vor allem eigene Forschungen entstanden sind. Allein die Zusammenstellung und Auswertung dieses Materials ist ein wesentliches Verdienst und eine erstaunliche Leistung dieser Arbeit.
Das Leitthema der Untersuchung ist Gott als Liebe. Das ist natürlich kein dogmatisches Spezialthema russischer Theologie, wohl aber eine Hilfe, die Fülle und Vielfalt des Materials in den Griff zu bekommen. Damit soll zugleich eine ökumenische Brücke geschlagen werden zu der Enzyklika von Papst Benedikt XVI. »Deus Caritas Est« (25.12.2005) und zu anderen päpstlichen Äußerungen zu diesem Thema (4) mit der These: »At the base of modern Russian theology and Christian philosophy, which we also wish to illuminate, lies a profound divinizing hope for human family and the world – that God has not abandoned either of them.« Schon hier zeigt sich in der Einleitung der Arbeit, dass wir es nicht mit einer Darstellung theologiegeschichtlicher Entwicklungslinien zu tun haben, sondern mit Glaubenszeugnis in oft dramatisch wechselnden Situationen von Kirche, Theologie und letztlich Theologen. Es geht dem Vf. darum, die Schätze westlicher und östlicher Theologie füreinander zu erschließen
»and above all, raising an awareness for the need of communication and a common language rooted in mutual respect and appreciation, because the results of these magnificent works and lifestories are ecclesial, social, and cultural divergences that create opportunities to grow in wisdom and the love of God and for our fellow human beings. We are invited to take inspiration from the example of the Holy Trinity: three distinct Persons, yet one God, in the unity of love« (7).
Was programmatisch in der Einleitung steht, wird nun mit reichem Material und vielen Belegen ausgeführt, und auf diese Weise gewinnt das Werk eine besondere Funktion in einer Zeit, in der das Verhältnis von östlicher und westlicher Christenheit zutiefst durch das Eindringen neuer kirchentrennender gesellschaftspolitischer Faktoren im Bereich von Ehe und Familie gestört, wenn nicht gar zerbrochen ist. Wenn man weiß, was die Sowjetherrschaft in den 20er Jahren des vorigen Jh.s auf diesem Gebiet angerichtet hat und welche Folgen das bis heute in den früheren Sowjetstaaten hat, kann man sich nur wundern über die Blindheit, mit der dasselbe heute in westlichen Gesellschaften auch von Theologie und Kirche aufgezwungen wird. Die russische Kirche und Theologie ist hier keineswegs rückständig; sie hat vielmehr in ihren bitteren Erfahrungen hinter sich, was wir vor uns haben und was man dem Osten nun als Fortschrittlichkeit meint aufzwingen zu müssen.
Dieser Hinweis auf ein Thema, das in diesem Buch nicht besonders behandelt wird, ist deshalb angebracht, weil es in den Werken, die vorgeführt werden, durchgehend um die Seinsgrundlagen aus dem christlichen Glauben geht. Sowohl in der oft zu Unrecht ge­scholtenen Schuldogmatik wie auch in der russischen christlichen Philosophie stellt sich nicht die Vermittlungsfrage von Vergangenheit und Gegenwart, von Kirche und Gesellschaft, sondern es geht um Einsicht in das Wesen und Wirken des Dreieinigen Gottes in dieser Welt.
In seinen abschließenden Erwägungen fasst der Vf. diese Einsicht zusammen als »New hermeneutics: ›God Is love‹ as the Ontological Foundation of Our Faith« (474 ff.). Mit diesem »neuen hermeneutischen Schlüssel« sollten nun alle Zweige der Theologie und der christlichen Philosophie »entsprechend der kirchlichen Tradition und der prophetischen Vision der Kirche, geleitet von der Lehre Jesu Christi« neu gesehen und bedacht werden (475). Diese Einsicht aus dem Martyrium russischer Kirche und Theologie könnte, wenn sie recht verstanden wird, auch eine Hilfe in der gesellschaftspoli-tischen Leere unserer heutigen Theologie und Kirche sein.