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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

239-241

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Gemes, Ken, and John Richardson [Eds.]

Titel/Untertitel:

The Oxford Handbook of Nietzsche.

Verlag:

Oxford u. a.: Oxford University Press 2013. 792 S. = Oxford Handbooks in Philosophy. Geb. US$ 165,00. ISBN 978-0-19-953464-7.

Rezensent:

Niklaus Peter

Friedrich Nietzsches Schriften – seine Bücher, die Nachlasstexte – haben die europäische Geistesgeschichte tiefgreifend verändert. Wie immer man sich zu seinem Anspruch stellen mag, »mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel« an Götzen gerührt, sie ausgehorcht und ihren Sturz eingeleitet zu haben – der Nachhall seiner Texte war enorm. Es gibt fast keinen Schriftsteller, keinen Philosophen, ganz wenige Theologen nur, bei denen man die Fernwirkung seiner Hammerschläge nicht spüren und hören würde, wie sie in zag- oder herzhaften Antworten entweder abwehren, mithämmern oder beides zugleich tun wollten: Thomas Mann, Gottfried Benn, Martin Heidegger, Albert Schweitzer, Ernst Troeltsch, Paul Tillich und Karl Barth, um hier einfach ein paar nicht unbedeutende deutschsprachige Autoren zu nennen. Und da die Textlandschaften bei Nietzsche so zerklüftet und auch widersprüchlich, das Großartige und Schreckliche so nahe beisammen, die Editions- und die Wirkungsgeschichten so komplex sind, greift man hoffnungsvoll zu einem Handbuch, das solide Orientierung verspricht. Besonders wenn es aus Oxford kommt und man damit die souve-räne Tradition englischer Geisteswissenschaft assoziiert.
Aber ist das 792-seitige »Oxford Handbook of Nietzsche« denn ein Handbuch? Würde man da nicht ein Hilfsmittel erwarten, in welchem der Stand der Forschung auf knappem Raum vermittelt, die Pluralität nennenswerter Interpretationsansätze und ihre jeweilige Methodik skizziert, die wichtigsten Texte und Kernbegriffe be­schrieben und die Wirkungsgeschichte reflektiert werden? Ein Blick aufs Inhaltsverzeichnis mag noch hoffnungsvoll stimmen, denn in insgesamt sechs Teilen werden behandelt: I. Biography (Nietzsches Familie, Nietzsche und die Frauen, seine Krankheit), II. Historical relations (Nietzsche und die Griechen, … und die Romantik, … und Kant, … und Schopenhauer, sein Einfluss auf die analytische Philosophie), III. Principal works (eine Auswahl seiner Schriften von der »Geburt der Tragödie« bis »Ecce Homo«), IV. Values (Nietzsches Metaethik, Lebenskünste, Autonomie, der Übermensch, Rangordnung, Moral und Moralität, Wille zur Macht), V. Epistemology & metaphysics (Perspektivismus, Nietzsches Naturalismus, sein Ästhe­tizismus, Sein, Werden und Zeit bei Nietzsche, Ewige Wiederkehr) und VI. Developments of will to power (Kausalität und Wille zur Macht, Christliche Moral und Nihilismus, Nietzsches philosophische Psychologie, Lebenswille und Lebenssinn). Und doch muss man leider sagen: Es ist eine Sammlung unterschiedlich gelungener Essays, kein Handbuch, in dem man mit kleinen, präzisen Hämmerchen gehärtetes Wissen erwarten dürfte. Es handelt sich um akademische Papers und Weltanschauliches, manchmal mit grobem Hammer geplättet.
So scheint Graham Parkes die neuere Forschung zu Nietzsches familiärem Umfeld entgangen zu sein, Julian Young vertritt die nicht überraschende, dafür apologetisch zugespitzte These, dass Nietzsches Enttäuschung mit Lou Salomé zu seinen furchtbaren Aussagen über die Frauen geführt habe (ohne die komplexe Psychologie seiner Mutter- und Schwesterbeziehung, ohne die kontrovers diskutierte Frage halb- oder nichtgelebter Homosexualität, ohne die inneren Zusammenhänge von Nietzsches Männlichkeitspathos, seiner Raubtiermetaphorik mit der Abwertung des Weiblichen auch nur zu touchieren). Interessant ist Huenemanns Aufsatz über »Nietzsche’s Illness«, der die bislang verbreitete Diagnose »Syphilis« als unhaltbar bezeichnet: Es habe sich um ein »retro-orbital meningioma« gehandelt, um einen langsam wachsenden Gehirntumor; interessant und differenziert auch die daran an­schließenden Betrachtungen über das Leiden, über die zu unterscheidenden Formen einer »psychological« und einer »philosophical madness«! Würde man im II. Teil eine Einordnung Nietzsches in die altphilologischen und kulturkritischen Diskurse seiner Zeit erwarten, eine kleine Prosopographie des Freundeskreises der »Hoffenden«, eine Analyse des Basler Milieus, wie sie Lionel Gossman und, ganz anders gelagert, Martin Pernet, geleistet haben, so wird man enttäuscht: Nietzsches Philhellenismus und Neopaganismus bekommen bei Jessica Berry keine Tiefenschärfe, Hubert Canciks Studien sind im Literaturverzeichnis zwar verzeichnet, aber nicht rezipiert. Die Essays über einzelne Schriften (Teil III) sind von sehr unterschiedlicher Qualität: einseitig, aber gut leuchtet Daniel Came das Thema der »notwendigen Illusion« in der »Geburt der Tragödie« aus, hell und differenziert auch Clark und Dudrick über »Jenseits von Gut und Böse« und Schacht über »Genealogie der Moral«, während etwa Gudrun von Tevenar (»Zarathustra«) und Dylan Jaggard (»Antichrist«) grob weltanschaulich und ohne jede Distanz Nietzsches Meinungen, Werturteile über »die Priester« und »den« christlichen »Geist der Schwere« und Hasses aufs Leben referieren, als sei das erhärteter Stand der Erkenntnis.
Es ist dies generell bei fast allen Autoren und Autorinnen zu beobachten, dass sie es nicht für nötig halten oder gar nicht erst auf die Idee kommen, Aussagen Nietzsches anhand sozialgeschichtlicher, theologie- und frömmigkeitshistorischer Forschung zu überprüfen, wie es etwa Andreas U. Sommer getan hat. Vermutlich wirkt sich hier die Historie-Blindheit der hegemonialen analytischen Philosophie ungünstig aus. So sind sozusagen alle Autoren der festen Überzeugung, dass faschistische und nationalsozialistische Lesarten Nietzsches völlig abwegig waren, dass es allein die Editionen der Schwester und ihre Avancen gegenüber Mussolini und Hitler gewesen seien, welche jene in der Tat fatalen Rezeptionsprozesse ausgelöst hätten. So referieren sie ohne alle »second thoughts« die von Nietzsche in sich verschärfendem Tone vorgetragene Meinung, dass mit dem Judentum die Moralisierung und die Feindschaft gegen »das Leben« begonnen habe, welche vom Christentum dann verhängnisvollerweise verbreitet worden seien– bei Nietzsche selbst übrigens mit der Wortprägung »verjüdelt« verbunden: »Alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends« (GM I.9)! So sprechen diese »world-renowned scholars« ( Klappentext) ganz unbefangen von nötigen »Rangordnungen«, von »Sklavenmoral« und »Herrenmoral«, von Nietzsches fundamentaler Kritik an europäischen Rechts- und Demokratietraditionen, vom »Willen zur Macht« – ohne dass mit einem Seitenblick auf die Verfassungstraditionen des Westens nochmals reflektiert würde, in welches Bett oder welchen Bunker man sich damit legt. Auch wenn es nicht der Tenor aller Beiträge ist, so wird doch »the naturalist reading of Nietzsche« von Brian Leiter gefeiert, welches seit etwa 20 Jahren in den USA zum Durchbruch gekommen sei. Theologische Nietzsche-Forschung ist selbstredend vollkommen ab­sent. Randall Havas schreibt über den »Overman«, ohne jene christlichen Hoffnungen auf den »Übermenschen« auch nur zu kennen. Ernst Benz hatte diese so eindrücklich beschrieben, gerade auch darin, wie Nietzsche sich von ihnen absetzt. Man kann aus diesem Oxforder Essayband einiges über Nietzsche und viel über die neuere englisch-amerikanische Nietzsche-Forschung lernen.
Wer sich handbuchmäßig schnell und präzise über Nietzsche informieren will, der greife, ob er nun mit Hammer, Hämmerchen oder Stimmgabel auf Götzenjagd ist, besser zu Hennig Ottmanns »Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung« (Metzler 1990, SA 2015) und zu Christian Niemeyers »Nietzsche-Lexikon« (WBG 2009).