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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

911 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Heinze, André

Titel/Untertitel:

Johannesapokalypse und johanneische Schriften. Forschungs- und traditionsgeschichtliche Untersuchungen.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1998. 400 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 142. Kart. DM 89,-. ISBN 3-17-015404-4.

Rezensent:

Otto Böcher

Die vorliegende Monographie ist eine Göttinger neutestamentliche Dissertation, die unter Georg Strecker ( 1994) begonnen und unter der Betreuung durch Hartmut Stegemann 1996 zu Ende geführt wurde; sie ist dem Gedenken an Georg Strecker gewidmet. Ihr Thema ist die seit der Spätantike diskutierte Frage nach dem Verhältnis der Apokalypse des Johannes zu denjenigen Schriften des Neuen Testaments, die gleichfalls den Namen des Johannes tragen. Den Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Beobachtung wichtiger Berührungspunkte einerseits und gravierender Unterschiede andererseits sowie die daraus resultierende Unterschiedenheit der gegenwärtigen exegetischen Positionen (Einleitung, 11-14).

Einer Lösung dieser Problematik nähert sich der Vf. auf zwei Wegen: mit Hilfe der Forschungsgeschichte und mit Hilfe der Traditionsgeschichte. Dementsprechend ist H.s Buch - nach der Einleitung (Teil 1) und vor dem resümierenden Schluß (Teil 4) - in zwei große Abschnitte gegliedert, einen forschungsgeschichtlichen (Teil 2) und einen traditionsgeschichtlichen (Teil 3).

Der forschungsgeschichtliche Teil ("Die Stellung der Johannesapokalypse zum Corpus Johanneum in der Kirchengeschichte", 15-240) umfaßt den Zeitraum vom 2./3. bis zum 19.Jh. Nacheinander befragt H. die Texte der Alten Kirche, des frühen Mittelalters, der Reformationszeit (125-141: Martin Luther), der Zeit nach der Reformation, des 18. Jh.s und des 19. Jh.s nach ihrer Beurteilung der Autoren der johanneischen Schriften. Diesen Teil beschließt der Vf. mit einem Resümee (201-214) und einem Exkurs ("Die Abfassungszeit der Johannesapokalypse", 215-240).

Im traditionsgeschichtlichen Teil ("Traditionsgeschichtliche Untersuchungen zur Apokalypse des Johannes", 241-354) beschränkt sich H. auf zwei paradigmatische Bereiche: auf "Aspekte der Christologie" (241-289) und auf "Die Wortgruppe martyreo martyria, martys in der Johannesapokalypse, dem Johannesevangelium und dem 1. Johannesbrief" (291-354).

Den zusammenfassenden, vierten Teil überschreibt H. "Johannesapokalypse und johanneische Schriften: Ergebnisse und Ausblick" (355-358). Ein ausführliches Literaturverzeichnis (359-400) beschließt den Band.

Die detailreiche forschungsgeschichtliche Untersuchung ergibt den Befund, daß bis zum ausgehenden 18. Jh. die apostolische Herkunft der Johannes-Apokalypse durchweg nicht bestritten wurde (201 f.). Der Widerspruch der Aloger (27-35) sowie derjenige Luthers in der Vorrede von 1522 (125-129) ist dogmatisch-theologisch, nicht historisch-exegetisch begründet; er bleibt die Ausnahme. Erst die Beobachtung historischer, theologischer und sprachlicher Spannungen durch die Exegeten der Aufklärung und vollends durch die Tübinger Schule des 19. Jh.s schloß die Apokalypse aus dem Corpus Johanneum aus (202-206). Die literar- und religionskritischen Fragestellungen und Erkenntnisse seit dem Ende des 19. Jh.s ermöglichten dann eine neue Suche nach Berührungen trotz deutlicher Unterschiede ("johanneische Schule", 206-214). In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach der Entstehungszeit der Apokalypse; ihr widmet Heinze einen Exkurs (215-240), in dem er altgewohnte Datierungshilfen in Frage stellt und eine nachdomitianische Abfassung ("eher das erste Viertel des 2. als das Ende des 1. Jahrhunderts wahrscheinlich", 240) vorschlägt. Dann jedoch kann man damit rechnen, daß der Verfasser der Apokalypse die Schriften des Corpus Johanneum oder zumindest die "hinter ihnen stehende Schule" gekannt hat (ebd.).

In seinen traditionsgeschichtlichen Abschnitten kommt H. zu dem Ergebnis, daß hinsichtlich der christologischen Titel und Benennungen höchstens "an einzelnen Stellen mögliche Beziehungen" feststellbar sind (288). Dagegen sind Apokalypse und Evangelium des Johannes deutlich verwandt, was den Gebrauch der Wortgruppe martys htl betrifft (353 f.).

Dementsprechend bleibt H.s Zusammenfassung (355-358) offen, vorsichtig und zurückhaltend. Die Annahme einer johanneischen Schule will H. nicht ausschließen, doch seien für den Apokalyptiker auch andere Traditionen wirksam gewesen. Infolge der - erwogenen - Spätdatierung der Johannes-Apokalypse kann er diese "als ein Produkt eines bereits fortgeschrittenen Kommunikationsprozesses zwischen den kleinasiatischen Gemeinden des beginnenden 2. Jahrhunderts" verstehen (357). Künftige traditionsgeschichtliche Erforschung der Johannes-Apokalypse kann H. zufolge daher nicht so sehr in der "Suche nach johanneischen Traditionszusammenhängen" bestehen als vielmehr im Fragen nach "Aufnahme und Verarbeitung aller christlicher Traditionen, die im Zeitraum um 100 im kleinasiatischen Bereich vermutet werden können" (358).

H.s Buch ist ein wichtiger Beitrag zu einer seit langem bedrängenden Frage. In den methodischen Schritten sauber gearbeitet, liest es sich plausibel und anregend. Formale Versehen (z. B. 271 "der Corpus Johanneum") halten sich in engen Grenzen. Alle Thesen sind zumindest diskussionswürdig; wohltuend berührt die Bereitschaft des Autors, auch entgegenstehende Auffassungen älterer Apokalypse-Forscher ernst zu nehmen und mit zu bedenken.

So wird H. auch dem Rez. verzeihen, daß er ihn nicht in allen Punkten überzeugen konnte. Noch immer spricht m. E. mehr für eine Entstehung der Johannes-Apokalypse unter Domitian als für eine Datierung ins frühe 2. Jh. Und Berührungspunkte zwischen den Christologien beider Schriften vermag ich mehr und bedeutsamere zu sehen als H. (vgl. z. B. nur Joh 10,30.38; 14,10 f. mit Apk 3,21; 14,1; 21,22 f.; 22,1); zumindest die Bezeichnung des erhöhten Christus als des logos (Joh 1,1.14) bzw. des logos tu theu (Apk 19,13) hätte eine ausführlichere Würdigung verdient als nur die Fußnote 234 auf S. 289. Vieles an der von André Heinze untersuchten Problematik wird wohl weiterhin offenbleiben müssen; daß unsere Schwierigkeiten unmittelbar zusammenhängen mit den Entstehungsdaten sowohl der Apokalypse als auch des Evangeliums des Johannes, hat H. richtig erkannt.