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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

224-226

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Selderhuis, Herman J., and J. Marius J. Lange van Ravenswaay

Titel/Untertitel:

Reformed Majorities in Early Modern Europe.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. 373 S. = Refo500 Academic Studies, 23. Geb. EUR 110,00. ISBN 978-3-525-55083-0.

Rezensent:

Christian Volkmar Witt

Mit seinen 18 Beiträgen, zu denen ein knappes Vorwort, ein Orts- sowie ein Personenregister hinzukommen, dokumentiert der hier anzuzeigende Band eine Tagung von 2013, die in das Projekt Doctrina et Tolerantia eingebettet war. Ein Sachregister und ein Autorenverzeichnis fehlen leider, während den einzelnen Aufsätzen Bibliographien beigegeben sind. Ganz grundsätzlich fragt der Ta­gungsband nach dem Umgang reformierter Mehrheiten im frühneuzeitlichen Europa mit »confessional minorities and theological diversities« (Vorwort).
Gerade die vier geographisch geordneten Sektionen (»Central Europe«, 49–108; »German Territories«, 111–201; »Dutch Republic«, 205–269; »France, Scotland, Switzerland«, 273–361) bieten bemerkenswerte Aufsätze, die im Folgenden exemplarisch Erwähnung finden. So geht Sándor Bene anhand des Gebrauchs des Begriffs fornicatio im Kontext konfessioneller und späterhin nationaler Topoi den Grenzen reformierter Toleranz in Ungarn nach (49–71). Be­zeichnete jener Begriff im jungen ungarischen Protestantismus als konfessioneller Minderheit noch gewohnheitsmäßig eine moralische Verfehlung (52–54), wandelte sich sein Gebrauch, als das Reformiertentum in Teilen Ungarns zur Mehrheit wird (54–65). Seit dem späten 16. Jh. diente er zunehmend der Polemik gegenüber denen im Mehrheitslager, die nicht zur Mehrheit gehörende religiöse Formationen tolerieren wollten: Wer diejenigen duldet, die sich an der Wahrheit Jesu Christi vergehen, verletzt das Treuverhältnis zwischen Christus und seiner Kirche, begeht also Ehebruch. »In the following decades the condemnation of fornication leaves the proper sphere of theological and moral-philosophical discourse and be­comes one of the most often used topoi of Hungarian political language.« (57)
Den damit tangierten engen Zusammenhang zwischen religiöser Mehrheit, konfessioneller Homogenität und nationaler Identität rückt R. Scott Spurlock in den Mittelpunkt seiner Beobachtungen zur Intoleranz des schottischen Reformiertentums vor dem 18. Jh. (295–311): Völlige Unduldsamkeit gegenüber Abspaltungen, unnachgiebiger Umgang mit ausgemachten Lästerungen Gottes und strikte Einforderung gesamtgesellschaftlicher Disziplin wurzelten in der Annahme, »that Scotland and its people were in a convenant with God – not limited simply to the elect« (297). Auf der Basis dieser Selbstwahrnehmung verharrte die Kirk bis zur Union von 1707 (307 f.) in der Breite in einer Intoleranz, die Diversität kaum aufkommen ließ und bereits gegen jede Tendenz zur Abweichung oder Innovation Stellung bezog.
Die Intoleranz frühneuzeitlicher reformierter Mehrheiten stellt auch Zsombor Tóth vor Augen, und zwar am Beispiel des Puritanismus in Transsilvanien (89–108). Die Bezeichnung Puritanismus auf die calvinistisch geprägten Verfechter des Presbyterianismus eingrenzend (93 m. Anm. 2), wird deutlich, wie das fein austarierte Toleranzsystem von reformiert-episkopalen, lutherischen, rö­misch-katholischen und unitarischen Gemeinden in Transsilvanien gerade darauf beruhte, allen anderen konfessionellen Formationen gegenüber intolerant zu sein (92 f.97). So wurden die presbyterianischen Vorstöße bei all ihrem demonstrativen Rekurs auf Kirchenväter und Reformatoren (99–103) als gefährliche Neuerungen stigmatisiert und entsprechend scharf bekämpft (92–98). Dass es dafür historisch-theologisch zu rekonstruierende Gründe gab, belegt Tóth dabei genauso wie die Tatsache, dass die Verantwortung für das Scheitern des transsilvanischen Puritanismus nicht nur auf Seiten der gegnerischen Mehrheit zu suchen ist (103–106).
Die Frage nach den Gründen des Scheiterns prominent vorgetragener Forderungen nach Toleranz wird auch in der Studie von Eike Wolgast gestellt, die sich mit der sogenannten Heidelberger Irenik und ihren Toleranzbestrebungen befasst (181–201). In einer beeindruckenden Zusammenschau der vermeintlich irenischen Vorstöße von Z. Ursin, B. Pitiscus und D. Pareus zeichnet Wolgast die Argumentation der drei genannten Theologen nach (183–193). Das Grundproblem der Artikulation von konfessioneller Irenik im 16. und 17. Jh. stellt er in diesem Kontext mehrfach unzweideutig heraus: Dem anderskonfessionellen Gegenüber die Hand zum Frieden reichend, wird zugleich der Anspruch erhoben, selbst allein auf dem Boden der Bibel zu stehen, sich daher als orthodox bezeichnen zu können und so allein zur Identifikation der Fundamentallehren fähig zu sein (182.184 f.192 f.). Diese offen artikulierte Selbstwahrnehmung sorgte für das Scheitern dieser Form von Irenik, wurde sie doch von ihren lutherischen Adressaten – wiederum bedingt durch deren Selbstwahrnehmung – als schiere Polemik gelesen.
Die Diskrepanz und Wechselwirkung zwischen kirchlich-theologisch postulierter Exklusivität des eigenen Konfessionskirchentums und Alltagspraxis beleuchtet Leon van den Broeke am Beispiel von Taufe, Eheschließung und Beerdigung in der niederländischen reformierten Kirche (213–225). Bei allem Anspruch, die reine Kirche Gottes zu sein, sah sich die reformierte Mehrheit immer wieder damit konfrontiert, in der Lebenswirklichkeit ihrer Gemeinden Kompromisse auf den genannten Handlungsfeldern einzugehen, die ihren Exklusivitätsanspruch direkt konterkarierten; die damit einhergehenden Aufweichungen vorgegebener Regeln und Grenzen resultierten auch aus ökonomischen Bedürfnislagen innerhalb der reformierten Gemeinden (214–219.221). So verwahrte sich die Mehrheitskirche zwar offiziell immer wieder strikt gegen jede Aufweichung konfessioneller Grenzen und agierte entsprechend intolerant. »At the same time the Church had to deal with other religious communities on the confessional market« (222), was ihr be­stimmte Öffnungen und in gewissem Maße Toleranz abnötigte.
Nicht nur die bisher angeführten Beiträge, die ihrerseits wieder anschlussfähig sind u. a. für die Ambiguitäts-, Toleranz- und Wahrnehmungsforschung, zeigen die Stärke des Bandes. Spricht man in frühneuzeitlichen konfessionellen Kontexten von Toleranz und hat man dabei die Mehrheitskonfession im Blick, kommt deren tolerantes Verhalten als meist politisch be­dingtes und somit zeitlich be­grenztes Phänomen der Duldung anderskonfessioneller Gruppierungen zu stehen, dessen Bedingungsgefüge sich historisch-theo-logisch genauso nüchtern rekonstruieren lässt wie die jeweilige Motivationslage seiner Verfechter. Entsprechend lassen sich auch Phänomene der Intoleranz auf ihrem religionspolitischen, recht-lichen oder institutionellen Hintergrund in ihren je spezifischen Kontexten historisch – eben ganz ohne Schamesröte – beschreiben.
So banal derartige Feststellungen klingen mögen, so nötig scheinen sie doch bei Lektüre anderer Aufsätze des Bandes zu sein: Den Studien aus der ersten Sektion des Bandes (»Reformed Tolerance«, 13–45) von Matthias Freudenberg zur Toleranz Calvins (13–35) oder von Maarten Kater zum reformierten Toleranzverständnis überhaupt (37–45) gehen die soeben gelobte Nüchternheit und die interdis-ziplinäre Anschlussfähigkeit ab. Beide konstruieren angesichts der Geschichte des Begriffs Toleranz mindestens zweifelhafte Toleranzkonzepte, mittels derer sie je in unverstellt apologetischer und unzweideutig gesellschaftskritischer Tendenz die faktische – und eben erklärbare – Intoleranz Calvins und seiner geis­tigen Erben kurzerhand zur eigentlich »wahren« Toleranz er­heben. Dass und wie nun auch die kirchen- und theologiegeschichtliche Beschäftigung mit Toleranz- und Intoleranzphänomenen ganz ohne solch hochgradig konstruierende Zugänge auskommt, belegt dankenswerterweise die Mehrheit der versammelten Beiträge.