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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

219-221

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Brink, Gijsbert van den, and Harro M. Höpfl [Eds.]

Titel/Untertitel:

Calvinism and the Making of the European Mind.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2014. VIII, 266 S. = Studies in Reformed Theology, 27. Kart. EUR 55,00. ISBN 978-90-04-27983-4.

Rezensent:

Johannes Hund

In dieser Veröffentlichung versammeln der Amsterdamer Kirchengeschichtler Gijsbert van den Brink und der britische Ideenhistoriker an der Essex Business School, Harro Höpfl, vier Beiträge zur Erforschung der Wirkungsgeschichte der Spiritualität Calvins im niederländischen und westdeutschen Kontext und sechs Aufsätze zur wissenschaftlichen Erfassung der calvinistischen Konfessionskultur und zu ihrem Beitrag zur Entstehung der modernen europäischen Identität. Der Band fügt sich damit gut ein in die mit der Konfessionalisierungsthese einhergehende Erforschung der je­weils spezifischen Ausprägungen der Konfessionskulturen rö­misch-katholischer, lutherischer, reformierter, aber auch orthodoxer Spielart, die als Rezeptionsgeschichten der unterschiedlichen Reformationen und Reformen des 16. Jh.s verstanden und vor allem während der beiden letzten Dekaden intensiv betrieben werden.
Die schottische Kirchenhistorikerin Julie Canlis eröffnet den ersten, der Rezeptionsgeschichte der Spiritualität Calvins gewidmeten Teil des Bandes mit einer Untersuchung der Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Calvins Frömmigkeit und der mittelalterlichen Mystik. Als gemeinsame Überzeugung stellt Canlis heraus, dass der Kontakt zwischen Gott und den Menschen auf einer Abwärtsbewegung Gottes, auf seiner Kondeszendenz, beruhte und nicht durch die Anstrengungen von Menschen »hergestellt« werden konnte, die nur den Boden für den Empfang Gottes bereiten konnten. Für Calvins Mystik waren weder der Aufstieg noch sonstige Aktivitäten der Seele entscheidend, sondern die Teilhabe an Christi Heilswerk im Hören auf das Wort Gottes, im Gebet und im Empfang des Abendmahls. Der Amsterdamer Kirchen- und Kulturhistoriker Fred van Lieburg untersucht in seinem Beitrag die »nadere reformatie« in den Niederlanden des 17. Jh.s und betont die Linien, die von dieser Bewegung hin zum Puritanismus in England und zum kontinentalen Pietismus führten.
Die Wesensmerkmale des Calvinismus im Vergleich zum Luthertum untersucht der Siegener Theologe Georg Plasger. Waren dort allein innere Faktoren, nämlich die Rechtfertigung und der Glaube, entscheidend, so kam im Calvinismus noch die Kirchenordnung als äußeres Kriterium hinzu. Die calvinistische Betonung der Kirchenordnung führte zu einer größeren Immunität gegenüber politischem Missbrauch, namentlich im Dritten Reich, er­höhte allerdings auf der anderen Seite auch die Anfälligkeit zur Kirchenspaltung. Die Amsterdamer Historikerin Mirjam van Veen untersucht zusammen mit ihrem Kollegen von der Washington State University Jesse Spohnholz die Exilanten im Rheinland während des 16. Jh.s, die – darin ganz der These Heiko Augustinus Obermans widersprechend – keinerlei Anfälligkeit zum Extremen zeigten, sondern in ihren theologischen Anschauungen recht moderat blieben. Religiöse Erfahrung und moralische Lebensführung wa-ren ihnen wichtiger als lehrmäßige Uniformität.
Der zweite Teil der Veröffentlichung widmet sich dem Einfluss des Calvinismus auf die Entstehung der modernen europäischen Kultur. Der Biologe und Historiker Jitse Michiel van der Meer untersucht die Rolle, die calvinistische Themen bei der wissenschaftlichen Revolution der Naturwissenschaften gespielt haben könnten. Einen Beitrag zur Rechtfertigung naturwissenschaft-licher Forschung könnte die calvinistische Vorstellung gespielt haben, dass die göttliche Gnade die menschliche Natur wieder herstellte und dadurch die Gläubigen inspirierte, die Welt zu verbessern. Für belastbare Aussagen zur Wirkungsgeschichte calvi-nistischer Gedanken bei der Entstehung der modernen Naturwissenschaft wären freilich, so van der Meer, auch vergleichende Studien zum Luthertum und zum Katholizismus der Zeit dringend nötig.
Der Direktor des Lichtenberg-Kollegs in Göttingen, Martin van Gelderen, stellt den Calvinismus in die Ahnenreihe des modernen Freiheitsgedankens. Denn der Streit zwischen den Dordrechter Calvinisten und den Arminianern führte paradoxerweise durch die Etablierung des freien Meinungsaustausches, der mit keiner Entscheidung endete, zur Eröffnung eines freien Raumes für die Diskussion unterschiedlicher Positionen. Einen Negativbefund präsentiert Harro Höpfl für die Frage, ob die Prädestinationslehre Auswirkungen für die reformierte politische Theorie gehabt habe oder nicht. Die Ansätze zur Ausbildung von Demokratie und Konstitutionalismus lagen, so Höpfl, weniger in der Willensfrage als vielmehr in der Differenzierung der Verantwortlichkeit der Kirche und des Staates und im Insistieren auf deren Trennung. Der niederländische Wirtschafts- und Ethikprofessor Johan J. Graafland untersucht die calvinistische Wirtschaftsethik, die zum freien Markt geführt, dabei zugleich aber immer auch auf Werte wie die Nächs­tenliebe und das Vertrauen hingewiesen habe, die unbedingt vonnöten sind, damit der Kapitalismus nicht aus dem Ruder läuft. Der emeritierte Genfer Reformationshistoriker Philip Benedict problematisiert die bekannte These Max Webers, der Kapitalismus sei eine Frucht des Calvinismus, indem er zunächst darauf hinweist, dass kausale Beziehungen zwischen dem Calvinismus und der Entwicklung von Industrie und Wirtschaft nur schwer nachweisbar sind. Der Calvinismus habe natürlich die Wirtschaft und den Kapitalismus gefördert und unterstützt, andere Konfessionen, Religionen und auch bestimmte Formen des Atheismus indes auch.
Gijsbert van den Brink stellt in seinem die Veröffentlichung abschließenden Artikel zunächst selbstkritisch fest, dass in der Vergangenheit die Zusammenhänge zwischen Calvinismus und mo­derner Kultur oft auch aus ideologischen und apologetischen Motiven heraus zu schnell hergestellt wurden. Säkulare Historiker hätten diese Tendenz in ihrer Ablehnung oft noch unterstützt. Van den Brink plädiert für einen unideologischen induktiven Zugriff auf die calvinistische Konfessionskultur und ihre Auswirkungen auf die Entstehung der europäischen Identität. Van den Brink plädiert für eine Problematisierung des Begriffs »Calvinismus«, der aus dem 19. Jh. stammt und im Grunde die historischen Phänomene nicht ausreichend beschreiben kann. Die Grenzlinien zwischen den Konfessionen waren vielmehr fließend, weshalb es weiterführen würde, von »reformierter Tradition« zu sprechen als vom »Calvinismus«. Festzustellen sind bei der Erforschung der reformierten Konfessionskultur auch die typisch reformierten Leerstellen in der bildenden Kunst und der musikalischen Tradition, die in anderen Konfessionen ungleich weiter entwickelt waren. Das calvinistische Ethos hat, so van den Brink, jedoch alle Säkularisierungen überlebt und leistet noch heute seinen Beitrag zur europäischen Kultur.
Die Veröffentlichung leistet nach dem Calvin-Jubiläum von 2009, zu dem wichtige Studien zum Thema erschienen sind, einen bedeutenden Beitrag zur Erforschung der reformierten Konfessionskultur, die freilich erst wirklich in ihrer Eigenart erfasst sein wird, wenn sie vergleichend mit den anderen die europäische Identität prägenden Konfessionskulturen verglichen und profiliert wird, wie es van den Brink auch fordert. Es ist hier also nur ein freilich wichtiges und spannendes Etappenziel erreicht, das auf wei-tere Arbeiten wartet und sie verlangt.