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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

211-215

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Jacobus de Voragine

Titel/Untertitel:

Legenda aurea – Goldene Legende. Jacopo de Varazze: Legendae Sanctorum – Legenden der Heiligen. Lateinisch – Deutsch. Einleitung, Edition, Übersetzung u. Kommentar v. B. W. Häuptli. 2 Bde.

Verlag:

Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2014. Bd. 1: S. 1–1043; Bd. 2: XI, S. 1044–2447. = Fontes Christiani, Sonderbd. Lw. EUR 228,00. ISBN 978-3-451-31222-9.

Rezensent:

Johannes Schilling

Wer es unternimmt, eine Ausgabe und Übersetzung der Legenda aurea (LA) zu veranstalten, muss Mut und einen langen Atem haben. Mehr als 30 Jahre hat der Münchensteiner Gymnasiallehrer Bruno W. Häuptli an der zweisprachigen Ausgabe gearbeitet (vgl. Sigfried Schibli, Geschichten zwischen wahr und erfunden. In: Basler Zeitung 2. Oktober 2014, 25; online). Und der Dank an Ehefrau und Sohn lässt vielleicht doch erkennen, dass die »Goldene Legende« in den vergangenen Jahrzehnten für die Familie Häuptli nicht nur geglänzt haben kann. Nun aber ist das Werk vollendet und im Druck erschienen – ein Meilenstein in der Rezeption der LA im deutschen Sprachraum.
Die LA – der Titel ist als solcher zuerst um 1290, also noch zu Lebzeiten des Kompilators, bezeugt; es gibt aber auch andere Bezeichnungen, etwa Historia Lombardica u. ä. –, die verbreitetste Legendensammlung des Mittelalters, konnten deutschsprachige Leser bisher in der lateinischen Ausgabe Johann Georg Theodor Graesses (1814–1885), die der Privatbibliothekar (seit 1843) des sächsischen Königs Friedrich Augusts II. zuerst 1846 (31890; Ndr. 1965) veröffentlicht hatte (online) und deren Texte in einer Auswahlausgabe (Legenda aurea. Aus der Goldenen Legende des Jacobus de Voragine. Hrsg. von Christoph Wetzel, Freiburg i. Br.: Herder) noch 2007 nachgedruckt wurde, lesen; dazu in der deutschen Übersetzung des bürgerlich-konservativen freischaffenden Privatgelehrten Richard Benz (vgl. Julia Scialpi, Der Kulturhistoriker Richard Benz [1884–1966]. Eine Biographie, Heidelberg u. a. 2010). Diese Übersetzung erschien zuerst 1917 und 1921 in zwei Bänden in aufwändiger Ausstattung (Häuptli bezeichnet sie als »luxuriös« [13]) in 1600 Exemplaren, von denen 500 handkoloriert wurden – Benz hatte auch Druckanordnung, Initialen, Titel und Einband des in der Offizin W. Drugulin in Leipzig, einem der angesehensten Setzerei- und Druckereibetriebe Europas, hergestellten Werks besorgt – bei dem schillernden Verleger Eugen Diederichs (1867–1930) in Jena, der seinen Verlag zu einem »Versammlungsort moderner Geister« ma­chen wollte und das deutsche Mittelalter ebenso pflegte wie fernöstliche Religionen, Naturwissenschaft, Theosophie und Lebensphilosophie (vgl. Ulf Diederichs, Eugen Diederichs und sein Verlag, Göttingen 2014; zur LA a. a. O., 194 f.). 1924 folgte eine aus der Schwabacher gesetzte einbändige »Volksausgabe«, die später an den Verlag Lambert Schneider in Berlin/Heidelberg überging, wo sie – nach einer 1969 bei Jakob Hegner in Köln erschienenen Auflage – zuletzt i n zehnter Auflage 1984 herauskam. 1993 und 1997 erfolgten die 11. und 12. Auflage bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft. Schließlich brachte das Gütersloher Verlagshaus 1999 eine 13., neugesetzte Auflage des Textes von Benz’ Einleitung und Übersetzung heraus, nach dem Verschwinden der Fraktur aus den Setzkästen nunmehr in einer – freilich nicht ganz so ansehnlichen – Antiquatype, aber bereichert durch ein Nachwort von Walter Berschin und ein Literaturverzeichnis. So ist die deutsche Übersetzung der LA durch Richard Benz für ein Jahrhundert ein spätes Kind der Ro­mantik, ja, ein Kind der Neuromantik geworden.
An eine neue Ausgabe des lateinischen Textes hatte sich nach Graesses Ausgabe lange Zeit niemand gewagt. 1998 erschien eine Ausgabe durch G. P. Maggione; eine zweite, vom Autor verbesserte Auflage folgte noch im selben Jahr (Iacopo da Varazze, Legenda Aurea. Edizione critica a cura di Giovanni Paolo Maggioni, Firenze 1998 [Millennio Medievale 6. Testi 3]; 2a. ed. Firenze 1999; vgl. dazu Häuptlis Rezension in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 56, 2000, 666 f. [online]). Maggioni hatte seiner Edition an­dere Handschriften als Häuptli zugrunde gelegt; Häuptlis Ausgabe darf man jedoch in jeder Hinsicht als die bessere bezeichnen (vgl. auch 60–64). Aus den mehr als 1000 Handschriften, von denen 30 noch in das 13. Jh. datiert werden können, hat der Editor zwei (auch Maggioni bekannte, aber von diesem anders bewertete) seiner Ausgabe zugrunde gelegt: Nach dem Verlust der ältesten be­kannten und auf 1273 datierten Handschrift aus der Stadtbibliothek Metz, die (am 31.8.) 1944 dort verbrannte (60 f.), gründet sich seine Edition auf je eine Pariser (Bibliothèque nationale, Nouv. acq. Lat. 1800 [Sigle: Z] aus dem Prämonstratenser-Priorat Montmirail bei Amiens, datiert 1281) und eine Münchener (clm 13026, datiert 1282, aus dem Benediktinerkloster Prüfening bei Regensburg [Sigle: H]) Handschrift. Bei abweichender Wortfolge zwischen Z und H entscheidet er sich bei der Textkonstitution – »willkürlich« (64) für Z.
Die Ausgabe bietet einen lateinischen Text auf der Grundlage von Z und H; der textkritische Apparat ist vernünftig angelegt und eliminiert alle Quisquilien (vgl. 64 f.). Da die Ausgabe Graesses seit ihrem Erscheinen Grundlage für alle Katalogisierungen und Forschungen war, sind am Rand der Edition Verweise auf die dortigen Seiten gegeben – eine sehr nützliche Entscheidung. Und insofern in Maggionis Edition einige Kapitel fehlen, gibt es eine Konkordanz zu dessen Ausgabe (65 f.).
Der erste Band enthält eine Einleitung (5–67), in der alle »Einleitungsfragen« umfassend und auf dem Stand der Forschung abgehandelt werden, ja, diese Einleitung stellt als solche den Stand der Forschung dar. »Legendae Sanctorum« lautet der Titel in der Edition; wie flüssig die Titel sind, hat H. in der Einleitung beschrieben (23 f.). Er ist aus der Überschrift »Incipit Prologus in legendas sanctorum, quas compilavit frater Iacobus natione Ianuensis de ordine fratrum praedicatorum« (70) gewonnen. Der »Kompilator« - will sagen: Verfasser und Redaktor – Jacobus de Voragine, geb. zwischen 1226 und 1230, entstammte dem Genueser Stadtadel. 1244 trat er in den Dominikanerorden ein, machte Karriere im Orden und wurde 1292 zum Erzbischof von Genua ernannt. Er verfasste zahlreiche Werke, unter ihnen im Alter eine »Chronica civitatis Ianuensis ab origine urbis usque ad annum MCCXCVII« sowie zahlreiche Predigten u. a. m. Die LA hat er zwischen 1263 und 1266 redigiert (vgl. die akribischen Hinweise zur Datierung; 44–50 – 1259 ist das spä-teste genannte Datum in der LA; 898/99); er starb in der Nacht vom 14. zum 15. Juli 1298. Am 11. Mai 1816 wurde er von Papst Pius VII. seliggesprochen.
Jacobus hat für seine LA zahlreiche Werke benutzt, kopiert, verändert, neu formuliert und vorsichtig kritisch bewertet – Häuptli spricht von »Pasticcio-Technik« (55). »Compilare« muss man sich jedenfalls als einen umfassenden und vielfältigen Prozess der Textkonstitution vorstellen. Auffällig ist, dass er weder Thomas von Aquin noch Albertus Magnus ausschreibt. Das Werk enthält insgesamt einige zehntausend Zitate, von denen nur (!) ca. 120 nicht verifiziert wurden.
»Legenda« ist von Herkunft her durch »vita« zu ergänzen. Die Lebensgeschichten, die die LA bietet, können in den ihr zugrunde liegenden Quellen auch als »passio« bezeichnet sein. Sie sollen wahr (»authentica«) sein, und dafür hatte auch das Mittelalter Gespür und Sinn. »Legenda« entwickelt sich vom Neutrum Plural zum Femininum Singular – daher erklärt sich die deutsche Bedeutung »die Legende« für eine – womöglich unglaubwürdige – Erzählung.
Die Viten in der LA folgen in der Regel ein und demselben Aufbau: Am Anfang steht die Etymologie des Namens, es folgt die Lebensgeschichte, am Ende stehen (ggf. postume) Wunder. Neue Heilige, insbesondere die von Gregor IX. und Innozenz IV. kanonisierten Heiligen aus den Bettelorden, Franziskus (LA 149, 1934/35–1964/65), Dominikus (LA 113, 1398/99–1444/45), der Sohn katharischer Eltern Petrus Martyr † 1252 (LA 63, 864/65–898/99; »novus martyr« 864,11; »confessor, martyr, propheta et doctor« 874,20) und die ihnen nahestehende Elisabeth von Thüringen (LA 168, 2170/71–2214/15) sind in der Sammlung besonders prominent vertreten – nur Augustinus beansprucht noch größeren Raum (LA 124, 1628/29–1674/75). Daneben stehen aber auch aus vorausgegangenen Martyrologien entnommene Berichte über frühe Märtyrer der Kirche, die kaum eine halbe Druckseite einnehmen (so z. B. Felix und Adauctus † 287; LA 126, 1702 f.).
Die lateinischen Texte und die Apparate waren in den Teilen, die ich durchgesehen habe, fehlerfrei. Die Übersetzungen folgen dem lateinischen Text ziemlich genau; in vielen Fällen dürften die Lateinkenntnisse des Herausgebers nicht über Gebühr in Anspruch genommen worden sein. Auch wer selten mittellateinische Texte liest, wird mit dem Originaltext der LA überwiegend gut zurechtkommen.
Neben Text und Übersetzung ist auch die Kommentierung Häuptlis Arbeit. Nur an wenigen Stellen findet man den Vermerk »Quelle nicht nachgewiesen« (so etwa 2427, Anm. 45). Zahlreiche Anmerkungen folgen den Angaben im Lexikon des Mittelalters, dem LCI, der TRE und dem LThK3. Daneben ist auch Spezialliteratur verwendet, die je nach Kapitel unterschiedlich ausfällt. In Kapitel 168 über Elisabeth von Thüringen ist die Kommentierung besonders reichhaltig, da Jacobus hier auf schriftliche Quellen zurückgreift, die im Einzelnen vermerkt werden. Neben den Anmerkungen zu einzelnen Personen und Sachen sind auch die Verweise innerhalb der LA schätzenswert. In den Anmerkungen gibt es ein paar leicht zu findende Satzfehler und kleinere Versehen, so etwa 2170, Anm. 1, wo es heißen muss: E. verstarb 1231 (nicht 1233); korrekt 2198, Anm. 59; 2172, Anm. 8 Z. 7 lies: aus dem Hörselgau. Dann und wann begegnen Helvetizismen, etwa »Hinschied« (1096, Anm. 2) oder »Unterbruch« (2401, Anm. 180), die den deutschen Leser an die schweizerische Herkunft des Kommentators erinnern. – Am Ende des zweiten Bandes stehen Literaturhinweise, Abkürzungen und zwei Register: kirchliche Feste und Heilige sowie Festkalender (2437–2447).
Wer die LA liest, liest mehr als ein Buch, er begegnet gleichsam einer Bibliothek des Mittelalters. Spätestens mit dieser Ausgabe heißt es Abschied zu nehmen von der Vorstellung eines naiven Märchenerzählers, der das christliche Mittelalter in seiner frommen Schlichtheit zur Darstellung gebracht hätte. Gibt es, so ist an diesem Ort zu fragen, so etwas wie eine »Theologie« der LA? Man wird die Frage am ehesten mit einem Blick in die Vorrede und in die Komposition der LA beantworten. Die LA ist nach dem Kirchenjahr geordnet. Neben 144 Heiligenlegenden enthält sie 33 Kapitel zu den Festzeiten des Kirchenjahres. Die LA ist eine mit großem Aufwand und hohem Sachverstand angelegte Komposition, in den Worten des Herausgebers: »Größte Selbständigkeit als Autor gewinnt Jacobus […] in der Behandlung der liturgischen Zeiten und Feste […] Hier liegt denn wohl auch das Geheimnis der Erfolgsgeschichte der LA gegenüber den vorausgehenden Kurzlegendaren: ihre Theologie präsentiert sich als logisch-eschatologisches System, das der Anthologie der Legenden übergeordnet ist« (57). Dieses »System«, vielleicht besser, diese Ordnung wird durch die Zusammenschau von Weltzeit und Kirchenjahr gewonnen. Die der Komposition zugrunde liegende Ordnung ist die der Heilsgeschichte, ihr Aufbau gliedert sich in Zeiten der »deviatio«, der »renovatio«, der »reconciliatio« und der »peregrinatio«, die sich ihrerseits im Kirchenjahr abbilden und mit den Jahres- und Tageszeiten in Beziehung setzen lassen (Prolog; 72–75). Entsprechend ist die gesamte Kompilation gegliedert: Kapitel 1–5 (Advent bis Weihnachten) handeln »de tempore renovationis«, 6–30 (Weihnachten bis Septuagesimae) »de tempore partim reconciliationis partim peregrinationis«, 31–53 (Septuagesimae bis Ostern) »de tempore deviationis«, 54–76 (Ostern bis Pfingstoktav) »de tempore reconciliationis«, 77–182 (Pfingstoktav bis Advent) »de tempore pe-regrinationis«. Mit dieser Gliederung schließt er sich an Johannes Beleth, Summa de ecclesiasticis officiis, an, die ihrerseits durch die LA weiteste Verbreitung fand. Darüber hinaus ist kirchengeschichtlich von besonderem Interesse die antikatharische Wendung des Jaco-bus, die sich insbesondere in dem Kapitel über Petrus Martyr zeigt, aber auch dort, wo man sie nicht vermuten würde, zum Ausdruck kommt, so in einem Zusatz zu der Vita Elisabeths (2176). Die Kirche hatte, so wird man sagen können, mit der LA eine theologisch reflektierte rechtgläubige Sammlung von Legenden, deren Lesung, sei es im Lateinischen, sei es in den zahlreichen Volkssprachen (vgl. nur die Einträge im Gesamtkatalog der Wiegendrucke s. v. ›Jacobus de Vora-gine, Legenda aurea‹), in die sie übersetzt wurden, den gläubigen Hörern und Lesern, den »catholici« (896,8), Beispiele für rechtes Leben und rechte Lehre, exempla vitae et doctrinae, vorstellte.
Mit diesem Sonderband der Fontes Christiani haben sich die Herausgeber und der Verlag sowie die Förderer, der Schweizerische Nationalfonds und das (deutsche) Bundesministerium für Bildung und Forschung verdient gemacht, vor allem aber der Herausgeber mit seinem Lebenswerk – Bruno W. Häuptli Bene immo optime meritus est de legenda aurea.