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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

208-209

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Beestermöller, Gerhard [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedensethik im frühen Mittelalter. Theologie zwischen Kritik und Legitimation von Gewalt.

Verlag:

Münster: Aschendorff Verlag; Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2014. 327 S. = Studien zur Friedensethik, 46. Geb. EUR 56,00. ISBN 978-3-402-11690-6 (Aschendorff Verlag); 978-3-8487-0840-6 (Nomos Verlagsgesellschaft).

Rezensent:

Ulrike Treusch

Der Band stellt den Ertrag zweier Tagungen des Hamburger Instituts für Theologie und Frieden, einer Einrichtung der katholischen Kirche zur theologisch-ethischen Friedensforschung in Tradition und Gegenwart, aus den Jahren 2009 und 2010 vor. Gerhard Bees­termöller, bis Oktober 2014 stellvertretender Direktor des Instituts, gab bereits 1999, ebenfalls in der Institutsreihe, den Aufsatzband zur »Friedensethik im Spätmittelalter« heraus und ergänzt diesen nun um Beiträge zur »Friedensethik im frühen Mittelalter«, genauer: im frühen und hohen Mittelalter, da einzelne Beiträge auch das 11. und 12. Jh. thematisieren.
Das frühe Mittelalter ist für die Herausbildung des heutigen Europas unbestritten von großer Bedeutung. Friedensethischen Ansätzen dieser Zeit wurde in der Forschung jedoch bislang wenig Beachtung geschenkt, auch aufgrund der Fremdheit der frühmittelalterlichen »Kriegergesellschaft […] mit einem wenig gebrochenen Verhältnis zur Gewalt« (9). Doch liegt darin auch die Aktualität der Periode, wie der Herausgeber einleitend bemerkt: »Stehen wir heute nicht auch vor der Aufgabe, dem Friedensauftrag Christi […] in Kulturen und Religionen nachzukommen, die unser Verständnis von den Grundlagen des Friedens, insbesondere den Menschenrechten, höchstens partiell teilen?« (10)
Eine unmittelbare Gegenwartsorientierung zeigen die beiden letzten Beiträge dieses Tagungsbandes, während es sich bei den vorausgehenden Beiträgen um aufschlussreiche historische Studien zu friedensethischen Perspektiven im 5. bis 12. Jh. handelt. Die elf Beiträge, gerahmt von einer ausführlichen Einleitung (7–17) und dem abschließenden Autorenverzeichnis, sind von Historikern und Theologen verfasst, die durch eigene Forschungen und Publikationen auf dem Gebiet ihres Beitrags ausgewiesen sind und denen es gelingt, ihr Fachgebiet auch dem mediävistisch nicht versierten Leser zu vermitteln. Die fast immer ins Deutsche übersetzten Zitate im Text tragen zur Lesefreundlichkeit bei; lediglich ein Personen-Register wäre noch hilfreich gewesen.
Mit der Studie zur »Christlichen Friedensethik von Augustinus bis Gregor dem Großen« (19–52) eröffnet Alfons Fürst den Horizont auch für die folgenden Beiträge. Denn er hält fest, dass Kriegs- und Gewalterfahrung stets den Hintergrund bilden, vor dem sich friedensethische Ansätze im frühen Mittelalter entfalten. Daher muss der Aufsatzband nicht nur im Kontext der Friedensforschung, sondern auch als komplementär zu den Untersuchungen zu Gewalt und Krieg im Christentum verstanden werden, wie z. B. Arnold Angenendts Werk zu »Toleranz und Gewalt« (2007) und den Mittelalter-Beiträgen im von Andreas Holzem herausgegebenen Sammelband »Krieg und Christentum« (2009). – Unter Berücksichtigung der Interdependenz von friedensethischer Idee und realer Friedens- bzw. Gewalterfahrung untersuchen die Autoren in historischen Längs- und Querschnitten Aspekte einer Friedensethik im frühen Mittelalter. So arbeitet Alfons Fürst heraus, dass Augustinus besondere Bedeutung für die frühmittelalterliche Friedensethik zukommt, da er zumindest virtuell von einer Trennung von Religion und Politik ausgeht und in dieser Perspektive das Kriegshandeln entsakralisiert. Diese Perspektive führt ihn, ebenso Gregor den Großen, zu einer christlichen Friedensethik in der Spannung von eschatologischer Friedenshoffnung und konkreter Verantwortung für Frieden in der Welt.
In liturgiegeschichtlicher Perspektive zeigt Jürgen Bärsch (53–84), wie die vorkonstantinische liturgische Bitte um das Heil der Feinde nachkonstantinisch zu einer Bitte gegen sie wird bis zur Entstehung einer Kriegsliturgie. Ist in der Liturgie eine christliche Friedensethik nur partikular erkennbar, so konstatiert auch Jürgen Weitzel in seiner rechtsgeschichtlichen Untersuchung (85–116) letztlich keinen signifikanten »Einfluss der christlichen Friedensethik auf die Sanktionierung von Unrecht« (103). Auch Lutz E. von Padberg, der nach »Frieden als Missionsziel« (117–147) fragt, kommt zum Ergebnis, dass Friedensperspektiven in der Erstbegegnung zwischen Christen und Heiden im Frühmittelalter selten zu finden sind. Wilfried Hartmann konzentriert sich auf die Frage eines »Heidenkriegs« bei Karl dem Großen (149–174). Die Beiträge zeigen, dass friedensethische Ansätze im Frühmittelalter sowohl auf der Ebene der Theorie als auch des praktischen Handelns eher selten und nicht dominant sind, wie es Lutz von Padberg formuliert: »Die Frage nach der christlichen Friedensethik […] gehört in die Zeitstufe der Christianisierung« (142), mithin in den auf die Mission folgenden, oft jahrhundertelangen Inkulturationsprozess, in dem sich christliche Vorstellungen vom Frieden erst entfalten und auch realpolitisch Wirkung zeigen können.
Die allmähliche Entwicklung friedensethischer Ansätze nötigt zur intensiven historischen Spurensuche, z. B. nach der bislang wenig beachteten Rolle der Päpste als Friedensvermittler in den Konflikten der karolingischen Herrscher ab dem 9. Jh. (Hermann Kamp, 175–201). Daher ist es, ungeachtet des Buchtitels, sinnvoll, den Untersuchungszeitraum bis ins 12. Jh. zu erweitern, um die Entfaltung christlicher Friedensethik zu zeigen, wie dies die folgenden ordensgeschichtlichen sowie übergreifenden Beiträge tun: So weist Wolfgang G. Buchmüller (203–233) nach, dass sich sogar im Aufruf zum II. Kreuzzug von Bernhard von Clairvaux »gewaltbeschränkende ethische Normen« (216) finden und Bernhard, ebenso wie Aelred von Rievaulx und Isaak von Stella als Zisterzienser der nächsten Generation, friedensethische Reflexionen kennt und Gewaltkritik äußern kann. Am Beispiel der frühen Prämonstratenser weist Ulrich Leinsle (235–267) nach, dass das frühe Ideal der Gewaltlosigkeit sich »der militärischen Wirklichkeit« (260) öffnen musste und zugleich das Kriegsgeschehen zum geistlichen Kampf spiritualisiert wurde. Daran knüpft Sabine Schmolinskys Frage nach dem Zusammenhang von irdischem Frieden und biblischer Apokalyptik im 11. und 12. Jh. an (269–282).
Michaela Puzicha sieht in der noch heute gelebten Benediktsregel sowohl die Vision des Friedens als auch die Anleitung zur praktischen Umsetzung friedensethischer Aspekte in der Mönchsgemeinschaft (283–303). Nach der Benediktsregel ist eine Voraussetzung für ein friedliches Miteinander die Wahrung der Würde des Einzelnen. Mit der Untersuchung des Konzepts der Menschenwürde im Mittelalter und dessen Bedeutung für den gegenwärtigen Friedensdiskurs beschließt Matthias Perkams den Tagungsband (305–326) und schlägt in der Gegenwartsbezogenheit zugleich die Brücke zur einleitend formulierten Intention des Sammelbandes: »Indem die Tradition so erschlossen wird, kann sie einen wesentlichen Beitrag für unsere Friedensverantwortung im Geist Christi leisten« (8).
Die Beiträge des Bandes bearbeiten das Thema der früh- und hochmittelalterlichen Friedensethik nicht abschließend, aber sie zeigen vielfältige Aspekte und geben theologie-historisch Interessierten einen gelungenen Einblick in Perspektiven, Ergebnisse und Probleme einer (früh-)mittelalterlichen Friedensethik in der Spannung von Gewalterfahrung und Friedenshoffnung.