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Ausgabe:

März/2016

Spalte:

192-194

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Oldenhage, Tania

Titel/Untertitel:

Neutestamentliche Passionsgeschichten nach der Shoah. Exegese als Teil der Erinnerungskultur.

Verlag:

Stuttgart: Verlag W. Kohlhammer 2014. 315 S. = Judentum und Chris­tentum, 21. Kart. EUR 34,99. ISBN 978-3-17-025635-4.

Rezensent:

Ulrich Oelschläger

Die Monographie geht auf längere Studien Tania Oldenhages in den USA und in der Schweiz zurück und wurde von der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Basel 2013 als Habilitationsschrift im Fach Neues Testament angenommen. Ausführlich beschäftigt sich O. mit der Verwendung des neutestamentlichen Passionsmotivs in der Erinnerungsliteratur zum Holocaust. Bereits in der Einleitung macht sie die Problematik einer Verschränkung von Jesu Passion mit Auschwitz deutlich, der sie an­hand einer Fülle von Material in der gesamten Studie nachspürt.
Unstrittig ist für O., dass jede Exegese der neutestamentlichen Passionstexte sich heute »mit der unheilvollen Wirkungsgeschichte dieser Texte« zu beschäftigen hat. Die Problemfrage dabei sei jedoch, inwieweit eine mit antijüdischer Auslegungstradition be­haftete Erzähltradition dazu helfen könne, die Shoah zu verstehen, oder ob es sich bei der Verbindung von Auschwitz und Golgatha nicht um eine »Vereinnahmung jüdischer Leidenserfahrungen« handele. Dies untersucht O. in den drei Teilen ihrer Arbeit an drei Stellen aus den neutestamentlichen Passionsgeschichten: dem »so­genannten Blutruf aus dem Matthäusevangelium« (Mt 27,25), der »Seligpreisung der Unfruchtbaren im Lukasevangelium« (Lk 23,27–31) und dem »Schrei der Gottverlassenheit« (Mk 15,34 u. Mt 27,46). Das Problembewusstsein vertieft O. in der Einleitung durch einen Blick in Rosemary Ruethers Buch »Faith and Fraticide«, in dem die Amerikanerin zeigt, dass der Antijudaismus eine konstitutive Rolle in der Entwicklung des Christentums gespielt habe. Dies verdeutlicht sie besonders am Gedanken einer vermeintlichen Kollektivschuld des jüdischen Volkes am Tod Jesu in der christlichen Tradition. Wie zum Beleg der Ruetherschen Thesen schildert O. den Konflikt zwischen dem lutherischen Neutestamentler Ulrich Wilckens und dem jüdischen Religionswissenschaftler David Flusser in dieser Frage anlässlich der Übersetzung des Neuen Testaments durch Wilckens 1970. Wilckens’ Erwiderung auf Flussers Kritik mache deutlich, dass es dem Neutestamentler offenbar möglich sei, sich vom Antisemitismus zu distanzieren und dabei an einem angeblich neutestamentlich begründeten Antijudaismus festzuhalten. Insofern möchte O. dazu beitragen, »dass die Exegese sich selbst als Teil der Wirkungsgeschichte biblischer Texte nach der Shoah wahrnimmt und Konsequenzen für die Textauslegung zieht«. In ihrer Auseinandersetzung mit den drei ausgewählten Texten aus den Passionsgeschichten interveniert O. auf methodisch differierende Weise kontextorientiert in exegetische und ge­sellschaftliche Diskurse.
Im ersten Teil untersucht sie anhand des »Blutrufs« (»Sein Blut auf uns und unsere Kinder«) das Motiv der Kollektivschuld nach der Shoah. Eindrucksvoll zeigt sie in intensivem Diskurs die Verschränkung der Frage einer jüdischen Kollektivschuld mit der Frage einer deutschen Kollektivschuld nach dem Zweiten Weltkrieg auf.
Wie auch in den weiteren Teilen des Buches widmet sich O. zunächst der Bearbeitung der Textstelle in der wissenschaftlichen Exegese und zeigt die Bemühungen der historischen Kritik, wegzukommen von der These der jüdischen Kollektivschuld. Als Beispiel wählt sie auch die Beschränkung der jüdischen Schuld auf eine Generation in der Bibel »in gerechter Sprache«. Sie geht auf die Auslegungstradition seit den Kirchenvätern ein und macht die Notwendigkeit einer neuen Interpretation unter Heranziehung neuer Literatur, Zeugenaussagen zu Auschwitz und poetischer Quellen, die sich mit der Shoah auseinandersetzen, deutlich. Die Thematik der Kollektivschuld der Deutschen im Zusammenhang mit Mt 27,25 reflektiert O. zunächst anhand der Stuttgarter Schulderklärung von 1945, der bekannten Rede von Theodor Heuss von 1947, in der der spätere Bundespräsident den Begriff der Kollektivschuld der Deut schen durch den der Kollektivscham ersetzt, und der Differenzierung des Schuldbegriffs, die Karl Jaspers in seiner Vorlesung im Wintersemester 1945/46 vornimmt. Das »schuldige jüdische Volk« als Metapher für die Schuld der Deutschen ist Thema der Analyse weiterer Texte des Theologen Hans Eduard Hengstenberg, der Dichterin Gertrud von le Fort und der Dichter Werner Bergengruen und Paul Celan. Letzterem und seinem Gedicht »Spät und Tief« stellt sie die Schrift des katholischen Theologen Heinrich Fries über den Nihilismus gegenüber. Beide »verweben« nach O. Mt 27,25 mit dem gesellschaftlichen Klima der deutschen Nachkriegszeit.
Schließlich setzt sich O. in einem weiteren Abschnitt dieses ersten Teils der Studie mit dem Thema Schuld und Vergebung als Verarbeitung des »Blutrufs« in den 1960er Jahren in Deutschland auseinander. Sie macht etwa die Problematik der soteriologischen Argumentation des katholischen Theologen Karl Hermann Schelke deutlich, das Blut Jesu komme »als Erlöserblut« über die Kinder Israels, indem durch diese Auslegung entgegen der Entwicklung wissenschaftlicher Exegese die »jüdische Schuld« ausdrücklich bestätigt werde. Besonders interessant ist die Analyse des Romans »Der Tanz des Dschingis Cohn« von Romain Gary, in dem die Versöhnung zwischen Opfer und Täter zum Albtraum gerät.
Im zweiten Teil ihrer Studie befasst sich O. schwerpunktmäßig mit der Seligpreisung der Unfruchtbaren (Lk 23,29) im Rahmen des Zusammenhangs von Lk 23,27–31 und zeigt, dass der Text nach der Shoah nicht mehr nur – wie in der deutsch- und englischsprachigen Exegese des 20. Jh.s – als Ankündigung des jüdisch-römischen Krieges von 66–70 n. Chr. verstanden werden kann. Kein »Drohwort« – so Bultmann –, keine Gerichtsankündigung komme hier zum Ausdruck, sondern ein Stück »Katastrophenliteratur«.
Kritisch reflektiert O. das Verständnis des Verses durch Walter Käser und das weiterer Autoren als »Ende des fleischlichen Israel« und als Interpretation des Zusammenhangs zwischen jüdischer Schuld und der Zerstörung Jerusalems. Auch die Deutung der bei Josephus berichteten Teknophagie der Maria durch Gerhard Maier aus dem Jahr 1992 empfindet O. als unsensibel, da hier ein deutscher christlicher Theologe jüdischem Leid im 1. Jh. die »Aura des Monströsen« verleihe, »die eine Identifikation mit den Leidtragenden, Gefühle des Mitleids oder der Sympathie« verhindere. Die einfühlsame Analyse möglicher Wirkungen bestimmter Auslegungen der Texte ist eine besondere Stärke der Arbeit, wenn sie auch nicht in jedem Falle von jedem nachvollziehbar erscheint. Durch Heranziehung weiterer Exegeten und der Kritik ihrer Ansätze einschließlich einer Untersuchung der Behandlung des jüdisch-römischen Krieges im Lukasevangelium kommt O. zu der Folgerung der Notwendigkeit einer »Relektüre« des Textes nach der Shoah, die zu der Erkenntnis führen müsse, dass die Seligpreisung der Unfruchtbaren »weder ein Gerichtsorakel noch ein Aufruf zur Askese noch eine Aussage über den Vorteil der Kinderlosigkeit in Katastrophenzeiten [sei], sondern ein Bild, mit dem die exzessive Gewalt des römischen Zerstörungskrieges gegen Jerusalem zum Ausdruck kommt.«
Schließlich setzt sich der dritte und letzte Teil der Arbeit mit dem Schrei des Gekreuzigten und dem Zitat von Ps 22,2 auseinander. Im ersten Abschnitt dieses Teils unter dem Thema »Exegese und Intertextualität von Mk 15,34 und Mt 27,46« bietet O. eine kritische Sichtung der exegetischen Literatur dazu. Mit Ulrich Luz kommt sie zu dem Ergebnis, dass das Psalmenzitat am Kreuz nicht die Assoziation der schlussendlich positiven Wendung des Psalms intendiert. An Luz schließt sich O. dem Ertrag ihrer gesamten Forschung entsprechend auch an in der Frage, dass sich das Verständnis »der Intertextualität neutestamentlicher Texte« nicht auf die Antike beschränken dürfe, sondern deren Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart berücksichtigen müsse. Mit Zustimmung und doch kritisch sieht sie Luz’ vorsichtiges Zitieren des Schriftstellers Zvi Kolitz, da das Zitat die Intention des von Luz nicht als fiktiv erkannten Textes »Jossel Rakovers Wendung zu Gott« nicht vollständig wiedergebe. Ebenso verfahre Dorothee Sölle mit Elie Wiesels berühmtem Text über eine Hinrichtung in Auschwitz, indem sie ihn christlich vereinnahme und den Text mit der Antwort auf die Frage, wo Gott sei, er hänge am Galgen, enden lasse, den Schluss, an diesem Abend schmecke die Suppe nach Leichnam, jedoch unterschlage. Besonders wichtig in diesem Schlussteil der Arbeit ist wohl das Eingehen O.s auf die Verarbeitung dieses Schreis Jesu in der jüdischen Literatur, sei es, dass die Autoren diesen Schrei im Verhältnis zur Ermordung der sechs Millionen Juden in der Shoah marginalisieren, sei es, dass sie ihn als Bild für das erfahrene Leid verwenden wie Jizchak Katznelson, der das Kreuz zum Riesenkreuz für die ermordeten Juden werden lässt. In ihren jeweiligen Schlussgedanken zu den einzelnen Teilen und in ihrer Zusammenfassung sowie den Folgerungen gibt O. wertvolle Impulse für die weitere Arbeit.
Insgesamt bietet die Studie wertvolles Material für die exegetische Auseinandersetzung mit den Passionstexten des Neuen Testaments, auch für die Predigt.