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Ausgabe:

Dezember/2014

Spalte:

1543–1549

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Matthias Morgenstern

Titel/Untertitel:

Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart.

Verlag:

Hrsg. im Auftrag v. Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin. Red.: B. Mihok. In Zusammenarbeit m. W. Bergmann, J. Heil, J. Wetzel, U. Wyrwa.
Benz, Wolfgang [Hrsg.]
Berlin u. a.: De Gruyter Saur. <
>Bd. 1: Länder und Regionen. 2009. 443 S. m. Ktn. Geb. EUR 129,95. ISBN 978-3-11-023510-4 [Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen] . Bd. 2 (2 Teilbde.): Personen. 2010. XLII, 934 S. Geb. EUR 229,00. ISBN 978-3-598-24072-0 [Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen] . Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien. 2010. XII, 388 S. Geb. EUR 149,95. ISBN 978-3-598-24074-4 [Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen] . Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen. 2011. XVI, 492 S. Geb. EUR 139,95. ISBN 978-3-598-24076-8 [Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen] . Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen. 2012. XVIII, 682 S. Geb. EUR 209,00. ISBN 978-3-598-24078-2 [Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen] . Bd. 6: Publikationen. Bearb. von B. Mihok. 2013. XVIII, 816 S. Geb. EUR 199,95. ISBN 978-3-11-025872-1 [Titel anhand dieser ISBN in Citavi-Projekt übernehmen] .

Gut drei Jahrzehnte nach seiner Gründung (1982) legt das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin, das sich mit dem Antisemitismus in seinen vielfältigen Ursachen, Erscheinungsformen und Auswirkungen in Vergangenheit und Gegenwart be­schäftigt, ein Handbuch vor, das die Ergebnisse der in interdisziplinärer Weise betriebenen Antisemitismusforschung zusammenführen soll. Das auf sieben Bände angelegte Werk wird von Wolfgang Benz, dem langjährigen Leiter des Zentrums (1990–2011), herausgegeben, der im Vorwort zum ersten Band die editorischen Leitlinien vorstellt. Das Handbuch will den Antisemitismus »als ältestes religiöses, kulturelles, soziales und politisches Vorurteil […] in allen Erscheinungsformen« darstellen und Erläuterungen zum Antisemitismus als »Vorurteil, als Politikmuster, als Instrumentalisierung von Emotionen, als Aggression vom Pogrom bis zum Genozid« geben (5). Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Gegenwart, jedoch finden auch frühere Epochen eine gewisse Berücksichtigung.

Als Autoren konnte das Handbuch zahlreiche Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen aus dem In- und Ausland gewinnen. Behandelt werden sollen »alle Erscheinungsformen« des Antisemitismus von der religiös motivierten Judenfeindschaft über den rassischen bis hin zu als »sekundärer Antisemitismus« und Antizionismus bezeichneten Phänomenen. Der Herausgeber verzichtet im Vorwort darauf, genauere Definitionen zu geben, was mit der Anlage des Handbuchs als Nachschlagewerk zu tun haben mag: Wer als Benutzer zu einem Stichwort nachschlagen will, hat in der Regel kein Interesse, zunächst begriffsanalytischen Diskussionen zu folgen oder Kategorisierungen im Hinblick auf gängige Antisemitismus-Theorien vorzunehmen. Andererseits – dies sei gleich zu Be­ginn bemerkt – ist die Frage, welche Phänomene unter »Antisemitismus« zu rubrizieren sind, und somit das Auswahlprinzip für die aufgenommenen Beiträge das eigentliche Problem dieses Handbuchs nicht nur in wissenschaftlicher Hinsicht, sondern auch für den anvisierten Kreis der Benutzerinnen und Benutzer, die sich in diesem Werk ja zurechtfinden müssen. Diese Sammelbesprechung der sechs bereits erschienenen Bände legt einen gewissen Schwerpunkt auf Aspekte mit kirchen- oder theologiegeschichtlichem Bezug, ohne die anderen Stichworte aber unbeachtet zu lassen.

Die 85 Artikel des ersten Bandes (»Länder und Regionen«) geben einen Überblick über die Geschichte und die aktuelle Situation der Judenfeindschaft in unterschiedlichen Ländern und Regionen. Die Aufteilung der Lemmata folgt dabei teils aktuellen nationalstaat­-lichen, teils Kriterien der historischen Geographie. So finden sich einerseits Einträge zu Ländern wie Ägypten (dieser Artikel be­schränkt sich erstaunlicherweise ganz auf das 20. Jh.), Albanien, Island, Italien, Neuseeland und Ungarn, andererseits Artikel zu geographischen Regionen wie »Bessarabien« und »Siebenbürgen« oder zu ehemaligen Staaten wie »Jugoslawien« oder auch das »Os­manische Reich«. Erwähnenswert sind die Artikel zu »Russland bis 1917« (verfasst von dem verstorbenen britischen Osteuropahistoriker John Klier) und zum »Vatikan (Kirchenstaat«). Dieser letztere Text enthält Ausführungen zu Päpsten wie Leo I. (440–461), der von »der Bosheit und Blindheit der Juden« sprach, Calixt II. (1119–1124), der die Juden andererseits vor Erniedrigungen durch den niederen Klerus bewahrte, Paul II. (1464–1471), der die Juden Roms während der Karnevalsumzüge der Stadt demütigte, Benedikt XV. (1914–1922), unter dem sich den Juden gegenüber »ein neuer Ton« anzubahnen begann, und vor allem zu Pius XII. (1939–1958), dessen Verhalten während der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust ausführlich geschildert wird (401 f.). So lehrreich es ist, was hier zur Geschichte des Papsttums zu lesen ist, so nahe liegen anachronistische Urteile; denn es wird nicht geklärt, inwieweit das jeweils Referierte nach Urteil des Verfassers Ulrich Wyrwa zum Antisemitismus selbst oder zu seiner Vorgeschichte gehört – an der Entstehung des »säkularen Antisemitismus«, so heißt es, war der Vatikan »unmittelbar beteiligt« (397) –, oder ob es nicht im Grunde um die jüdisch-christlichen Beziehungen in ihrer Geschichte überhaupt geht. Manche Ausführungen sind auch nur erforderlich, um den Kirchenstaat und Vatikan als historische Phänomene zu fassen. Bedauerlich ist, dass Querverweise auf die Artikel zu den Pius-Päps­ten im zweiten Band und auch zum Artikel »Katholische Kirche« fehlen, für den Rainer Kampling in Band 5 nur knapp drei Seiten (!) zugestanden wurden (352–355).

Der Artikel »Palästina« (259–264) – er bezieht sich einerseits geographisch auf das etwas unhistorisch als »Israel/Palästina« bezeichnete Land, andererseits auf die arabischen »Palästinenser«, deren Organisationen und das Autonomiegebiet (die Problematik der Nomenklatur wird nicht thematisiert) – beginnt mit der Feststellung, dass die Geschichte des Nahostkonfliktes nicht auf »einen Gegensatz von rational begründeten Interessen« zu reduzieren sei; es folgen Ausführungen zu arabischen Reaktionen auf den Zionismus und zu antizionistischen und antisemitischen Motiven im politischen Diskurs der »Palästinenser« nach der Staatsgründung Israels. Als Beispiel dafür dient u. a. der Verweis auf die »Protokolle der Weisen von Zion« in der 1988 veröffentlichten Gründungs-charta der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas. Hier wie an anderer Stelle wäre eine Fußnote sinnvoll gewesen: Wo kann man zitierfähige Übersetzungen dieser Charta finden? In diesem Sinne fällt überhaupt immer wieder das Fehlen bibliographischer Hinweise auf. Im Artikel »Frankreich« begegnet ein bekanntes, gelegentlich als Topos für den französischen Antisemitismus herumgereichtes Zitat – De Gaulles Diktum, die Juden seien ein »elitäres, arrogantes und herrschsüchtiges Volk« (121). Wenn der Verfasser Daniel Gerson dem Leser schon das Originalzitat nicht zumuten will (»un peuple d’élite, sûr de lui-même et dominateur«), so hätte man an dieser Stelle doch gern Näheres über den Kontext und die zitierfähige Fundstelle erfahren.

Als nützlich, gerade für ein Nachschlagewerk, erscheinen hingegen zahlreiche Artikel zu einzelnen Ländern wie Bolivien, Chile und Argentinien bis hin zu Uruguay, in die der Antisemitismus aus Europa importiert wurde. Wer auf diesem Gebiet Informationen sucht, wird an anderer Stelle nicht so leicht fündig und weiß das hier reichlich und konzentriert dargebotene Material mitsamt Hinweisen zur Sekundärliteratur zu schätzen. Angemerkt werden soll immerhin, dass Informationen zum aus den GUS-Staaten importierten Antisemitismus im zeitgenössischen Staat Israel fehlen: Hier wäre im Hinblick auf antisemitische Vorfälle unter Einwanderern, die in der Sowjetunion in ihren Pässen als Juden eingetragen waren, die in Israel aber nach orthodoxer matrilinearer Definition (weil sie etwa nur einen jüdischen Vater, aber keine jüdische Mutter haben) nicht mehr als Juden gelten, einiges mitzuteilen gewesen.

Die beiden Teilbände des zweiten Bandes (»Personen«) enthalten etwa 700 Kurzbiographien »von Personen, die von der Spätantike bis in die Gegenwart […] im Kontext der Judenfeindschaft eine Rolle gespielt haben« (Vorwort; V). Dies bedeutet, dass auch Akteure aufgenommen wurden, die selbst keine Judenhasser waren, aber in bestimmten antisemitischen Diskursen eine Rolle spielten oder auch dem Antisemitismus entgegentraten. Dieses letztere Krite-rium gibt der Auswahl fast etwas Beliebiges, denn es sind auch Namen wie die zionistischen Theoretiker und Akteure Theodor Herzl und Max Nordau sowie der Schriftsteller Thomas Mann – und im Übrigen auch Moses Mendelssohn und Immanuel Kant! – verzeichnet. Hervorgehoben zu werden verdienen, aus der Feder von Thomas Kaufmann, die Einträge zu Martin Luther (501–506) und Andreas Osiander (605–607), der 1529/1530 eine Schrift verfasste, in der er der gegen ungarische Juden gerichteten Ritualmordverleumdung entgegentrat. Während dieser letztere Artikel die Quellentexte angibt (Osianders Gesamtausgabe, hrsg. von Gottfried Seebaß) und auch über teilweise brisante Sekundärliteratur informiert (eine 2003 neu herausgegebene Monographie von Emanuel Hirsch), verharrt der Beitrag über Origenes als »griechischer Kirchenschriftsteller«, der gemeint habe, sich »von einem vermeintlichen jüdischen Literalsinn einer buchstäblichen Schriftdeutung polemisch« habe »abgrenzen zu müssen« (604), ausschließlich bei englischsprachiger (!) Sekundärliteratur. Daneben findet sich auch immer wieder viel Lehrreiches und auch Hilfrei ches in Artikeln, die zu Recht in einem Nachschlagewerk Platz gefunden haben, etwa zu dem Wiener Orientalisten Wahrmund (als Autor der antisemitischen Zeitschrift »Der Hammer«), zu dem nordamerikanischen Priester Charles Edward Coughlin, der in den 1930er Jahren mit seinen Radioprogrammen und in seiner Wo­chenzeitung »Social Justice« judenfeindliche Stereotype verbreitete, und zu dem Schriftsteller Ernst Graf von Reventlow (684 f.). Die wohl unvermeidlichen Abbreviaturen bringen dabei auch manches Komische mit sich, wenn etwa bei »Marcion (ca. 85–160)« sozusagen als Berufsbezeichnung »Häretiker« angeboten wird (518 f.). Auffallend ist, dass zwischen den Artikeln zu dem rumänischen General und Politiker Mihai Antonescu (1882–1946) und Max Apt, einem Vorstandsmitglied des »Deutsch-Israelitischen Gemeindebundes Berlin«, ein Eintrag zu dem Judenfeind Apion aus dem antiken Ägypten fehlt. Stattdessen folgt unmittelbar auf Apt ein Artikel zu Yasir Arafat.

Der dritte Band (Begriffe, Theorien, Ideologien) behandelt Voraussetzungen, Ausprägungen und Definitionen der Judenfeindschaft, die für das Verständnis grundsätzlicher Entwicklungen notwendig sind. Dazu finden sich, jeweils aus der Feder von Rainer Kampling, abgewogene und solide Einträge wie »Antijudaismus« (10–13) und »Antike Judenfeindschaft« (14–15) und von Mario Keßler der Artikel »Antizionismus«, wobei der jüdische von einem rechtsradikalen und islamistischen Antizionismus unterschieden wird. Hinzu kommen grundsätzliche Ausführungen zur »Antisemitismusforschung« (16–21) sowie zu den »Theorien des Antisemitismus« mit Hinweisen u. a. zu psychoanalytischen und sozial- und kulturwissenschaftlichen Erklärungsansätzen (316–338, mit Litera­- turteil). Angesichts der Anlage und des Gesamtumfangs des Handbuchs hätte dieser letztere Artikel, etwas breiter ausgeführt und mit Anmerkungen zur ja durchaus kontroversen Debatte versehen, vielleicht besser als eine Art Einführung zu Beginn des ersten Bandes gestanden. Auffällig unterbelichtet ist hier im Übrigen wieder die antike Judenfeindschaft – das Standardwerk, Peter Schäfers »Judeophobia« (1997), wird nicht einmal erwähnt.

Zu den »Begriffen« wird in diesem Band offenbar der »Ansiedlungsrayon« der Juden im zaristischen Russland gerechnet – freilich erwartete man als Leser dieses Stichwort eher im ersten (der Geographie gewidmeten) Band. Als »Ideologie« firmiert dann möglicherweise die (mit christlicher Bibelauslegung befasste) »Exegese« mit Ausführungen von Matthias Blum, der sich auch mit dem Stichwort »Neues Testament« befasst. Wenn der Autor abschließend feststellt, die Abkehr von einem Entwurf christlicher Iden-tität »in Diskontinuität zum Judentum« habe zur Folge, dass die »antijüdische Präjudizierung der biblischen Hermeneutik ihre Selbstverständlichkeit« verliere (83), so ist aber zu fragen, ob der indirekt postulierte Identitätsentwurf »in Kontinuität zum Judentum« (ein solcher hat ja unweigerlich ein Konkurrenzverhältnis zur Folge) nicht andere jüdisch-christliche Konfliktlinien zur Folge haben würde!

Eigens hingewiesen werden soll auf die Artikel »Namen-Polemik«, also zur antisemitischen Charakterisierung von Juden durch »jüdisch« klingende Namen (wieder vermisst man Belege, etwa zur Vermutung, häufige Tiernamen bei Juden seien durch die Tiervergleiche Jakobs in Gen 49 veranlasst), der Eintrag »Reformation« (erneut von Thomas Kaufmann) sowie zur »Talmud-Polemik« (Susanne Plietzsch), also zu negativen Äußerungen in der christlichen Theologiegeschichte über die rabbinische Literatur, vor allem über den Babylonischen Talmud. So sehr hier für die Spätantike eine historische Kontextualisierung zu wünschen gewesen wäre (auch der Talmud war bekanntermaßen nicht zimperlich im Umgang mit seinen Gegnern), so sehr verblüffen und schockieren die nach wie vor skandalösen Verdrehungen und Verleumdungen eines Andreas Eisenmenger (1654–1704) und August Rohling (1839–1931). Unverständlich ist erneut, warum Querverweise auf die bibliographischen Beiträge zu den letztgenannten Judenfeinden (im zweiten Band) unterbleiben. Auch bleibt es häufig bei An-deutungen, wo man genauere Informationen erwarten würde: So erfährt man, dass Anfang 1941 in New York unter dem Titel »Germany must perish« eine Broschüre erschien, die »die Aufteilung Deutschlands an die Nachbarstaaten und die biologische Ausrottung der Deutschen durch Sterilisierung« propagierte (»Kaufman-Plan«, 172). Diese Veröffentlichung eines kleinen Mannes, »der Theaterkarten verkaufte und ganz aus eigenem Antrieb handelte« (173), wurde und wird von der rechtsextremistischen Propaganda zur Konstruktion eines vom »Weltjudentum« angezettelten Komplotts verwendet und erschien 1977 »in deutscher Sprache in einem einschlägigen Verlag« (ebd.). Den genauen Veröffentlichungsort aber (falls jemand, neugierig geworden, einmal nachlesen wollte) darf man auch in einem wissenschaftlichen Kontext nicht erfahren?

Der vierte Band informiert seinem Titel gemäß über »Ereignisse, Dekrete, Kontroversen«, daneben über Affären, gesetzgeberische Maßnahmen und politische Proklamationen mit Bezug zum Antisemitismus sowie über Skandale, Prozesse und sonstige Manifestationen von Judenfeindschaft. Dazu gehören etwa Informationen über den Anderl-von-Rinn-Kult, eine in der Nähe von Innsbruck liegenden Wallfahrtsstätte, die auf eine Ritualmordverleumdung zu Beginn des 17. Jh.s zurückgeht – ein Kult, der erst 1985 beendet wurde, was in den »internationalen Medien großes Aufsehen« erregte (Belege, die man auch durch ansprechendes Internet-Material hätte vermehren können, fehlen erneut).

Zu diesem Band gehören auch Einträge über eine Friedhofsschändung in Erfurt aus DDR-Zeiten (1983), über Passionsspiele (263–265), das Pogrom in der polnischen Stadt Jedwabne des Jahres 1941 (277–279) sowie – hier machen sich, wenn die Texte von »Israel« und dem »Weltzionismus« sprechen (15), die fließenden Grenzen zwischen Antisemitismus und Antizionismus bemerkbar – Anmerkungen unter den Titeln »Arabischer Aufstand (1936–1939)« und »Arabischer Boykott«.

Unangenehm fällt in einigen Beiträgen dieses Bandes der journalistische Stil auf. Zur »Hohmann-Affäre« im Anschluss an eine von dem CDU-Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann am 3. Oktober 2003 in Fulda gehaltene Rede ist von »eine[r] lupenreine[n] Probe […] wie Antisemitismus funktioniert« (170) die Rede und von einem »klassischen antisemitischen Diskurs […], wie man (!) ihn […] kennt« (171). Eine »beträchtliche Zahl von Bürgern« – woher weiß der Autor das? Sind »die Bürger« so dumm? – sei »in dem Glauben bestärkt« worden, »bestimmte Dinge dürfe man nicht ungestraft sagen« (172). Warum werden hier anstelle unklarer Andeutungen auf Zeitungen (»Ende November 2003«) nicht im Klartext Orte angegeben, wo Leser die Rede Hohmanns und unmittelbare Reak tionen nachlesen können? Parolen wie »Bierdunst der Stamm-tische« (172), aber auch »bierernste Trotzigkeit« und »muffige Ressentiments« (vgl. 250, zur Möllemann-Affäre) erwecken den Eindruck, Teile des Textes – aus der Feder des Herausgebers, der zur Sekundärliteratur nur auf sein eigenes Buch »Was ist Antisemitismus« (2004) verweist – seien aus einem journalistischen Leitartikel abgeschrieben.

Der fünfte Band beschäftigt sich über die Aufzählung im Titel (»Organisationen, Institutionen, Bewegungen«) hinausgehend zu­dem mit Parteien, Vereinen, »Nichtregierungsorganisationen« so­wie mit Kirchen und kirchlichen Vereinigungen, die im Umfeld des Themas Antisemitismus von Belang sind. Dementsprechend finden sich Beiträge zu den mittelalterlichen »Bettelorden« und noch spezieller zu den Dominikanern und Franziskanern sowie zu den Jesuiten und zum in der Mitte des 14. Jh.s in Spanien gegründe-ten Hieronymitenorden (311–313). Bei den beiden letztgenannten Orden ergibt sich teilweise eine überraschende Perspektive, weil vor der Durchsetzung der »limpieza de sangre«-Statuen, die nur solche Personen für öffentliche und kirchliche Ämter zuließen, die nachweislich keine jüdischen Vorfahren hatten, einige ihrer treuesten Anhänger jüdischer Abstammung waren.

Daneben wird der Leser in diesem Band auch zu Themen fündig, zu denen man speziell dieses Lexikon konsultieren würde, etwa zu rechtsradikalen Organisationen in unterschiedlichen Ländern wie Italien (»Alleanza Nazionale – Movimento Sociale Italiano«), der Schweiz (»Nouvel Orde Social«, »Ligue vaudoise«), Kanada (»Orde patriotique des Goglus«) und Rumänien, wie der faschistischen »Legiunea Arhanghelul Mihail«, der »Legion des Erzengels Michael«, die sich in ihrer Propaganda einer religiös gefärbten Sprache bediente und gegen die Juden hetzte. Von besonderem Interesse ist die rumänische »Noua Dreapta« (»Neue Rechte«) auch deshalb, weil sie in der Vergangenheit mit der deutschen NPD und der »All-ukrainischen Vereinigung Swoboda« kooperierte (455). Auch der »Arbeitsgemeinschaft Deutsche Glaubensbewegung«, dem lettischen Antisemitischen Institut und der antisowjetischen Widerstandsorganisation »Litauische Aktivistenfront« sowie der unga-rischen Jobbik-Partei sind eigene Artikel gewidmet.

Hinzu kommen Informationen zur »Bekennende[n] Kirche« (aus der Feder von Manfred Gailus) und schließlich Erläuterungen zu Vereinigungen zur Abwehr des Antisemitismus und zu jüdischen Zusammenschlüssen wie zum »Allgemeinen jüdischen Ar­beiterbund in Litauen, Polen und Russland« und zur Alliance Israélite Universelle. Leider werden auch hier (15) Details nur wieder angedeutet (die Archive der Alliance »tauchten erst nach dem Zusammenbruch der UdSSR wieder auf«), ohne dass man Näheres erfährt. Andernorts wird der Leser mit journalistischen Floskeln abgespeist. So orakelt Juliane Wetzel zur Rolle des Vorsitzenden der österreichischen FPÖ Strache als »Israel-Unterstützer«, wie »weit tatsächlich diese Affinität« reiche, werde sich herausstellen (260). Zu Marine Le Pen, der Vorsitzenden des französischen Front National, heißt es in einem aus dem Englischen (!) übersetzten Artikel, sie spiele »wegen ihrer Gegnerschaft zum Islam nicht die Israel-Karte« (266). Auch zum Diktum ihres Vaters Jean-Marie Le Pen, die nationalsozialistischen Gaskammern seien ein »Detail in der Ge­schichte des zweiten Weltkrieges« (265) – der Rezensent hat das Zitat mitsamt anderen Tiraden im französischen Fernsehen selbst aus seinem Mund gehört, aber vielleicht sucht jemand einmal eine zitierfähige Belegstelle, etwa in der französischen Presse? – fehlen verifikatorische Angaben.

Der sechste Band – hier ist Rainer Kampling zusätzlich als Mitherausgeber angegeben – enthält Informationen zu Periodika wie »Der Stürmer«, die den Antisemitismus zu ihrem eigentlichen Ziel und Inhalt gemacht hatten, oder zu rechtskatholischen Zeitschriften wie »La Croix« und »Le Pèlerin«, die im 19. Jh. und zu Beginn des 20. Jh.s von antijüdischen Animositäten mitgeprägt waren. Hinzu kommen Einzelpublikationen wie der Vortrag des Jenaer Neutes­-tamentlers Walter Grundmann »Die Entjudung des religiösen Lebens« aus dem Jahre 1939 oder Gerhard Kittels Pamphlet zur »Judenfrage« (1933). Im Eintrag »Forschungen zur Judenfrage (1937–1944)« des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands in München findet auch die publizistische Tätigkeit des späteren Qumranforschers Karl-Georg Kuhns (1906–1976) kurz Erwähnung. Dieser war zur NS-Zeit freilich nicht nur Orientalist (211), sondern verstand sich auch als evangelischer Theologe und hielt in den 1930er Jahren als Mitarbeiter Gerhard Kittels Lehrveranstaltungen an der Tübinger evangelisch-theologischen Fakultät. Der Fall Kuhn (ein entsprechender Artikel fehlt in Band 2) hätte auch deshalb eine ausführlichere Behandlung verdient, weil Kuhn während des Zweiten Weltkrieges in Begleitung eines SS-Offiziers das Warschauer jüdische Ghetto besucht hatte, um dort Archivalien und Schriften zu be­schlagnahmen, also zu stehlen, wie das Tagebuch des Warschauer Judenratsvorsitzenden Adam Czerniaków vermerkt. Andererseits gehörte Kuhn, der 1964 in die Heidelberger Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, zu den wenigen, die es über sich brachten, nach dem Krieg zumindest eine seiner antisemitischen Schriften ausdrücklich zu widerrufen: sein hier nicht eigens besprochenes Buch »Die Judenfrage als weltgeschichtliches Problem« (Ham­burg 1939).

Eine abschließende Würdigung des nach Umfang und Forschungsleistung zweifellos beeindruckenden Handbuches kann erst vorgenommen werden, wenn der abschließende siebte Band vorliegt. Jedoch ist jetzt schon zu sagen, dass die Stärke dieses Werkes eher im Faktographischen liegt als in der analytischen Durchdringung; einerseits vermag dies in einem Nachschlagewerk nicht völlig zu überraschen; andererseits ist man beim Lesen und Durchblättern doch immer wieder verblüfft über die Prinzipien, die zur Auswahl der Artikel und zur inhaltlichen Verteilung auf die vorliegenden Bände geführt haben. Eine stärkere Anbindung des in schier un­übersehbarer Fülle präsentierten Materials an die Theoriediskussion zu Antisemitismus und Judenfeindschaft mitsamt den notwendigen terminologischen Differenzierungen wäre manchmal hilfreich gewesen.

Als Problem benannt werden sollen auch der Epochen übergreifende Anspruch und die wie immer stets löbliche Interdisziplinarität. Beides ist für das Handbuch, das ja gerade auch die Übergänge vom vorneuzeitlichen, christlich motivierten Judenhass zum mo­dernen Antisemitismus zeigen will, nicht nur wichtig, sondern grundlegend. Abgesehen davon, dass es nicht immer gelungen ist, für jeden Beitrag spezifische Fachwissenschaftler zu gewinnen (so etwa für das Hass-Pamphlet »Die Judenfrage« des Tübinger Neu-testamentlers Gerhard Kittel), sollte dieser Anspruch dann aber um­so mehr auf redaktioneller Ebene gelten. Die Verkürzungen und Missverständnisse, die beispielsweise unter dem Stichwort »Diaspora« (Band 3) zu lesen sind (der Autorin sind die Differenzierung zwischen dem Alten Israel und dem Judentum und auch die konnotativen Unterschiede zwischen dem griechischen Begriff »Diaspora« und dem hebräischen Terminus »Galut« augenscheinlich unbekannt, und zur Vertreibung eines Großteils »der Juden aus Palästina« nach dem Jahre 70 n. Chr. reproduziert sie unhinterfragt Klischees der Populärliteratur), erwecken Zweifel, ob Fachleute aus den Bereichen der alten Geschichte oder Judaistik in irgendeiner Weise an der Endredaktion beteiligt waren.

Schließlich zur Aktualität und damit Kurzlebigkeit: Nach neueren, auch gerichtlichen Auseinandersetzungen um den französischen Komiker Dieudonné M’bala M’bala können Sätze wie die Feststellung, dieser sei »heute der wahrscheinlich bekannteste und publikumswirksamste Antisemit Frankreichs« (Band 2, 174), fünf Jahre nach Drucklegung in diesem Fall wohl nur unterstrichen werden. Dennoch sind solche Feststellungen riskant. Sie tragen dazu bei, dass Nachschlagewerke (zu) rasch veralten. Als vorläufiges Resümee sei hinzugefügt, dass der Rezensent aus diesem umfangreichen Handbuch mehr lernen konnte, als es zu bemängeln gibt.