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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

141-143

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Schlag, Thomas, u. Henrik Simojoki[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Mensch – Religion – Bildung. Religionspädagogik in anthropologischen Spannungsfeldern.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2015. 664 S. Kart. EUR 68,00. ISBN 978-3-579-08187-8.

Rezensent:

Antje Roggenkamp

Der von Thomas Schlag und Henrik Simojoki herausgegebene Sam­melband ist als Festgabe für Friedrich Schweitzer zum 60. Ge­burtstag erschienen und umfasst acht größere Kapitel.
Der ausführliche Einleitungsparagraph (1. Kapitel: 16–31) widmet sich der anthropologischen Dimension der Religionspädagogik, einem Thema, das »je nach Akzentuierung [als] klassisch, überholt oder eminent klärungsbedürftig« (16) gelten kann. Klassisch ist das Thema, insofern religiöse Bildung oder Erziehung ohne grundlegendere Reflexionen über den Menschen nicht auszukommen scheint. Überholt ist das Thema, insofern die Frage nach dem Menschen zunehmend mit der Abkehr vom Singular (zugunsten des Plural) beantwortet wird. Transdisziplinäre Diskurse treten in den Fokus der Religionspädagogik, die nicht länger nach dem Überschneidungsfeld von pädagogischer und theologischer An­thropologie fragen, sondern Alternativen jenseits und diesseits normativer Bestimmungen suchen. Die Situation der Religionspädagogik erscheint insofern als aporetisch, als diese einerseits ihre Rolle im Diskurs um eine pluralitätsfähige Religionspädagogik finden muss, sie aber andererseits um ihres spezifischen Wirklichkeitsverständnisses willen den Anspruch auf subjektive Wahrheit aufrechterhalten will. Gerade im Diskurs über inklusive Bildung bedürfe es normativ dimensionierter Menschenbilder, um nicht »auf eine Grundsatzkritik der Bildungspolitik« (Dressler) zu verzichten. Die pädagogische Einforderung »normativ abstinenter Zugänge« rekurriere ihrerseits gerade in der entsprechend apodiktischen Negation auf »normative Voraussetzungen und weltanschauliche Orientierungen« (23).
Vor diesem Hintergrund legt sich die Etablierung eines besonderen Rahmens nahe, innerhalb dessen Religionspädagogik sich stets neu Rechenschaft über das ihr zugrundeliegende Menschenbild gibt. Sogenannte Spannungsfelder markieren einen strukturellen An­spruch gegenüber den dimensionalen Entwürfen des Menschseins, die in ihrer Fokussierung auf anthropologische Dimensionen wie Liminalität, Temporalität, Korporalität, Kulturalität, Sozialität und Subjektivität (Zirfas) die »singularische Option« weiterführen (24 f.). Spannungsfelder eröffnen nun aber einen Möglichkeitsraum, in dem diese Singularität vermieden werden kann: »die Leiblichkeit von Menschen [wäre] im Horizont der beschleunigten Virtualisierung menschlicher Lebensführung zu reflektieren, ihre Liminalität mit der ihnen ebenfalls inhärenten Bildsamkeit auszubalancieren, ihre Rationalität im Horizont dessen zu thematisieren, was sie überschreitet« (25 f.). Insofern zielt die Festgabe auf das Gespräch mit verschiedenen Disziplinen, um »anthropologische Spannungsfelder religiöser Bildung« zu identifizieren und religionspädagogisch – unter Rückgriff auf biographische und gesellschaftliche Veränderungen – zu reorganisieren (1. Kapitel: 16–31).
Die Beiträge der 54 Autoren ordnen sich sechs Hauptkapiteln zu, die entweder – wie das zweite Kapitel (34–139) – auf grundlegende, interdisziplinäre und religionspädagogische Spannungsfelder hinweisen oder diese kontextualisieren: im Bereich der Geschichte der Disziplin (3. Kapitel: 142–196), im Feld des Lebenszyklus (4. Kapitel: 198–305), in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht (5. Kapitel: 308–406), schulisch (6. Kapitel: 408–538), aber auch kirchlich (7. Kapitel: 540–635). Dabei sind die Kapitel 2 sowie 4–7 noch einmal besonders perspektiviert: Mit Blick auf die Beiträge wird zwischen interdisziplinärer und religionspädagogischer Perspektive unterschieden. Bilanz und Ausblicke schließen sich an (8. Kapitel: 638–648).
Insgesamt dokumentiert der Sammelband, in welchem Maße Friedrich Schweitzer ähnlich wie Karl-Ernst Nipkow, sein 2014 verstorbener Lehrer und Vorgänger, auf dessen Anregung das Thema der Festgabe zurückgeht, die religionspädagogischen Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte beeinflusst hat: Die Frage nach der kontextuellen Grundierung religiöser Bildung, die in der 1992 er­schienenen Habilitationsschrift »Die Religion des Kindes« als religionspädagogische Grundfrage anklang, ist 2015 zu einem veritablen Gegenstand des religionspädagogischen Diskurses geworden (150 f.163.164.175 f.184.253.265.351.445.470.472.474.513.614). Die verschiedene Grundspannungen im Übergang vom Singular zum Plural benennenden Handlungsfelder geben potentielle »Qualitätsdimensionen« dieses Diskurses vor. Dabei erlangen allerdings anstatt der Dimensionen zunehmend die Modi ( Christian Grethlein) an Bedeutung; mit Friedrich Schweitzer wird man aber auch anmerken müssen, dass es offensichtlich viele Möglichkeiten gibt, sich auf Religionspädagogik sinnvoll zuzubewegen.
Im Einzelnen sind es vor allem die interdisziplinären Beiträge, die die Anregungen Schweitzers auch explizit betonen: So verweist die Biologin Eve-Marie Engels auf die Bedeutung der von Friedrich Schweitzer herausgestellten drei Bereiche der Pluralität, Individualisierung und Globalisierung (39 f.), die Pädagogin S. Karin Amos rezipiert seine Anstöße für ein Umdenken im Bereich der interkulturellen Pädagogik (319), der Jurist Heinrich de Wall zeigt auf, dass es sich lohnt, die Frage nach dem Recht des Kindes auf Religion auf den Religionsunterricht als »Institut der deutschen Rechtsordnung« (427) zu beziehen. Während Ausführungen über (ex)zen-trische Positionalität (Dieterich), Resilienz (Naurath), Inklusion (Schweiker) subjektorientierte Ansätze aufgreifen, hat Friedrich Schweitzer auch religionspsychologisch prägend gewirkt: Lebensgeschichte und Religion, Religion im Lebenslauf, Jugendkultur und die Studie über den Konfirmandenunterricht zählen zu den Aspekten, die u. a. von Boschki, Bucher, Englert, Kumlehn und Schwab als nachdrückliche Einsichten unterstrichen werden.
Dass Friedrich Schweitzer nicht nur den von Nipkow übernommenen Ansatz der Elementarisierung vorangetrieben, sondern auch den kinder- und jugendtheologischen Ansatz mit entwickelt bzw. eine Auseinandersetzung mit diesem befördert hat, ist insofern nicht unwichtig zu betonen, als sich die religionspädagogischen Beiträger und -innen in theologischer Hinsicht fast er­schreckend einig sind: Die Begriffe Person, Subjekt, Rechtfertigung oder supererogato-rischer Ersatz, Gottesebenbildlichkeit oder interreligiös gesprochen die grundsätzliche Heiligkeit des Menschen (Grümme) setzen die wesentliche Erkenntnis frei, dass theologischer Einspruch den Menschen von sich selbst oder von anderen auferlegten normativen Zwängen entlasten kann. Insofern drängt sich der Eindruck auf, dass Religionspädagogik künftig auch die Theologie noch einmal stärker ins Visier nehmen muss. Dies könnte – wie von den Herausgebern bereits angedeutet – im Verbund und unter weitergehendem Rekurs auf religionspädagogische Schlüsselwörter, aber auch im Diskurs mit den exegetischen, historischen und vor allem systematischen Disziplinen der Theologie (647) geschehen.
Dem voluminösen Buch bleibt zu wünschen, dass es als anthropologisches Handbuch nicht nur für Religionspädagogen seine Wirkung entfaltet. Es ist zu hoffen, dass es auch die übrigen theologischen Disziplinen daran erinnert, dass ein Diskurs mit einer pluralen Verhältnissen Rechnung tragenden, der Individualisierung kritisch-sensibel nachspürenden und für die Ausprägungen der Globalisierung Verantwortung übernehmenden Religionspä-dagogik dringend nötig ist.