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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

130-132

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Barnes, L. Philip

Titel/Untertitel:

Education, Religion and Diversity. Develop­ing a new model of religious education.

Verlag:

Abingdon: Routledge 2014. 272 S. Kart. £ 31,99. ISBN 978-0-415-74159-0.

Rezensent:

Günter R. Schmidt

Der Weg, den die Religionspädagogik während der letzten Jahrzehnte in Großbritannien genommen hat, wird von vielen als Fortschritt gesehen: vom Konfessionalismus zur Neutralität, vom religiösen Engagement zur Professionalität, von der Indoktrination zur Bildung (education). L. Philip Barnes stellt diese Sicht in Frage und verweist auf die relative Erfolglosigkeit der religious education (RE). Sie habe weder das Interesse der Schüler wecken noch darauf vorbereiten können, »to live respectfully and responsibly amidst moral and religious diversity«. Er will die gängigen Konzeptionen kritisch darstellen und ein neues Modell skizzieren, das ihre Schwächen vermeidet, ihre Stärken jedoch einschließt. Bei seiner Bestandsaufnahme geht es ihm weniger um Einzelheiten von Debatten und institutionellen Maßnahmen als um die Sach- und Wertannahmen, die ihnen zugrunde liegen. Grob unterscheidet er die »konfessionelle«, die »phänomenologische«, die »liberale« und die »postmoderne« Konzeption. Zum Schluss stellt er Grundzüge eines eigenen Modells dar, das er als »postliberal« bezeichnet. We­gen der Verbreitung englischer Sprachkenntnisse hätten wenig selbstkritische britische Religionspädagogen einen internationalen Einfluss erlangt, der ihnen weder von ihren Grundannahmen noch ihrem Niveau her zukomme. Der Anspruch, nicht-konfessionelle RE fördere in einer multikulturellen Gesellschaft wie der britischen Toleranz und sozialen Zusammenhalt, sei empirisch nicht nachgewiesen. B. diskutiert die unterschiedlichen Ausprägungen, Wahrnehmungen und Bewertungen kulturell-religiöser Vielfalt sowie die Säkularisierungsthese, die sich weithin als unhaltbar erwiesen habe. Konfessionelle RE werde weithin abgelehnt, weil sie Indoktrination impliziere und für »eine plurale und säkulare Ge­sellschaft« unangemessen sei. B. entgegnet, dass auch bei konfessioneller RE die eigene Überzeugung der Schüler frei gewählt werden könne und dass sich in einer demokratischen Gesellschaft »das Einbläuen religiöser Glaubenssätze durch ausschließlich nicht-ra­tionale Mittel« selbst um den angestrebten Ertrag bringen würde.
Als erstes nachkonfessionelles Modell stellt B. die »phänomenologische« RE vor. Nach seinem Initiator Ninian Smart muss RE über bloße Information hinaus das Christentum mit anderen Religionen vergleichen, so auch in diese einführen und die Wahrheitsfrage thematisieren. Dabei zielt RE nicht nur auf Kenntnisse und Denkfähigkeiten, sondern auch auf ein Gespür für die emotionalen Grundlagen religiösen Glaubens und seiner Ausdrucksformen. B. und andere kritisieren, die Voraussetzung, »religiöse Erfahrung« sei in den verschiedenen Religionen irgendwie gleichartig, begüns­tige religiösen Relativismus.
Das zweite nachkonfessionelle Modell repräsentiert besonders John Hull. Sein Anliegen besteht darin, das ethische Potential der verschiedenen Religionen für die Förderung des sozialen Zusammenhalts, der Toleranz, ja der Wertschätzung unterschiedlicher religiöser Orientierungen zu nutzen. Er wendet sich gegen »Religionismus«, der, dem »Nationalismus« vergleichbar, das Eigene zu Lasten des Anderen aufwertet. RE soll die Einsicht in die Gleichwertigkeit der verschiedenen Religionen fördern. Wie die Phänomenologen nimmt er in ihnen »eine gemeinsame spirituelle Dynamik« war. Die Ursache von Intoleranz ist der Glaube an die Einzigartigkeit und ausschließliche Wahrheit der eigenen Religion, der deshalb aufgegeben werden müsse. B. macht geltend, dass dieser Glaube nicht einfach ein Element unter anderen sei, das man einfach herausnehmen könne, ohne den Gesamtinhalt zu verändern. Weiterhin sei die Behauptung der Gleichwertigkeit nur eine konfessionelle Position unter anderen.
Als drittes nachkonfessionelles Modell präsentiert B. das post-moderne. Der Post-Modernismus ist in sich nicht einheitlich und lässt sich nicht immer klar von modernistischen Orientierungen abgrenzen. Seine Kennzeichen sind unter anderen die Betonung des Lokalen gegenüber dem Universalen, das Brennpunktinteresse für Interpretation, das Misstrauen gegenüber Wahrheitsansprüchen, der Gebrauch der Sprache zur Verstärkung von Machtstrukturen und die besondere Aufmerksamkeit für die innere Verschiedenheit und Umstrittenheit religiöser Traditionen. B. ordnet als einflussreichsten Religionspädagogen Robert Jackson mit seinem »interpretativen Ansatz« dieser Strömung zu. Zu dessen Hauptanliegen gehören der »Widerstand gegen Rassismus« und die »Minderung religiöser und kultureller Vorurteile«. Es geht ihm darum, die Religiosität von Individuen so zu verstehen, wie sie sie selbst verstehen. Divergierende Wahrheitsansprüche sollen in den Hintergrund treten. Er konzentriert sich auf »Religion, wie sie von Individuen in verschiedenen kulturellen Zusammenhängen gelebt und erfahren wird«. Kritisch vermerkt B., dass Jackon mit der Absicht interreligiöse Spannungen abzubauen, »die Bedeutung des Lehrgehalts von Religion« zu sehr herunterspiele, mit einem unscharfen Religionsbegriff hantiere und übersehe, dass Religionen »coherent wholes« seien.
An sämtlichen nachkonfessionellen Konzeptionen kritisiert B., dass sie kaum »die wesentliche Rolle religiöser Erziehung für die moralische Erziehung« begründen könnten. Als Motive für diese Trennung deckt er das »multikulturelle«, das »spirituelle« und das »zivile« auf: Man könne nicht die spezifische Moral einer Religion als verbindlich lehren, »Spiritualität« stärke »Liebe, Sympathie und Verantwortung«, ohne eine »partikulare Moralität« zu privilegieren, und im Wesentlichen komme es auf Gesetzestreue ( citizenship) an. Dagegen wendet er ein, dass die Ablösung des Religiösen vom Ethischen ein Zugeständnis an keineswegs allgemein anerkannte philosophische Theorien darstelle, das dem Selbstverständnis von Gläubigen widerspreche.
In seinem Schlusskapitel will B. die Konsequenzen seines kritischen Referats der verschiedenen Modelle für ein »neues nach-liberales Modell religiöser Erziehung« ziehen und skizziert dessen Grundsätze: RE muss Religion darstellen, wie sie ist, und nicht, wie sie Theoretiker gerne hätten. Sie soll »Menschen und Gemeinschaften unterschiedlicher Identitäten und Selbstverpflichtungen (commitments) befähigen, verantwortlich und achtungsvoll zu­sam­menzuleben«, die religiöse Unterschiedlichkeit (diversity) in der modernen Gesellschaft ernst zu nehmen, der Einzigartigkeit, der inneren Differenziertheit und den Wahrheitsansprüchen der einzelnen Religionen für ihre Lehren gerade auch in ihrer Gegensätzlichkeit Rechnung zu tragen und zur Teilnahme an Diskussionen darüber und zum Weiterlernen zu befähigen, ethische Themen mit Bezug auf Lebenswirklichkeit und Interessen der Schüler zu behandeln, Vorurteilen entgegenwirken und zu einer Toleranz erziehen, die Achtung vor Personen mit Kritik ihrer Überzeugungen vereinbaren kann.
Es ist zu wünschen, dass B. sein eigenes »nach-liberales Modell« ausbaut und darin das Christentum als Bezugsgröße entsprechend seiner Bedeutung für Europa deutlicher in den Mittelpunkt stellt. Sein Referat ist ein erschütterndes Dokument dafür, wie die Entchristlichung der RE gerade von Personen gefördert wurde, die sie hätten hemmen müssen, nämlich christlichen Theologen. Wegen seiner Klarheit und guten Lesbarkeit, sowie weil es die weiteren Zusammenhänge, in denen das Theoretisieren über RE zu sehen ist, aufzeigt, stellt das Buch auch für deutsche Leser ein höchst empfehlenswertes Training für die kritische Lektüre religionspä-dagogischer Texte das.