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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

123-125

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Lunk, Johanna

Titel/Untertitel:

Das persönliche Gebet. Ergebnisse einer empirischen Studie im Vergleich mit praktisch-theologischen Gebetsauffassungen.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2014. 336 S. m. Abb. Kart. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-03929-6.

Rezensent:

Alfred Seiferlein

In vielen Religionen, wie auch im Christentum, besitzt das Gebet eine zentrale Rolle in der Glaubenspraxis. Im evangelischen Kontext ist die Relevanz des persönlichen Gebets für das Glaubensleben traditionell besonders hoch. Für die Praktische Theologie hingegen fristet die Wahrnehmung dieses religiösen Phänomens eher ein Schattendasein. Die vorliegende Erlanger Dissertation von Johanna Lunk, gearbeitet bei Hanns Kerner, nimmt sich des Themas an, trotz der vielen Schwierigkeiten, die mit der Erforschung des persönlichen Gebets naturgemäß verbunden sind.
Im Zentrum der Arbeit steht die Auswertung der Bayreuther Studie »Rituale, Sinngebung und Lebensgestaltung in der modernen Welt«, die vom Gottesdienst-Institut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern mit Sitz in Nürnberg in Auftrag gegeben und vom Institut zur Erforschung der religiösen Gegenwartskultur in Bayreuth durchgeführt wurde. Die 52 Interviews wurden von der Vfn. auf ihre empirischen Aussagen zum Gebet hin untersucht und ausgewertet.
Was ist ein Gebet? Diese Frage beantwortet die Vfn. zunächst ab­sichtlich nicht, sondern sie überlässt die »Definitionshoheit« den interviewten Personen (25). In einem zweiten Durchgang werden dann Formulierungen ausgewertet, in denen nicht explizit von »Gebet« oder »Beten« die Rede ist, aber im Sinne eines weit verbreiteten Gebetsverständnisses von einer Hinwendung oder Kommunikation mit einer Transzendenz gesprochen wird.
Das große Kapitel 2 der Arbeit widmet sich der Auswertung der »Bayreuther Studie«. Zuerst wird der äußere Rahmen der Gebete beleuchtet: Wann die Probanden beten – es überrascht wenig, dass das Morgen- und das Abendgebet besonders häufig genannt werden. Situationen, äußere und innere Anlässe für Gebete werden an Einzelbeispielen thematisiert – z. B. bei Krankheit oder in arbeitsintensiven Zeiten. Zwischen gemeinsamen Gebeten und dem privaten Einzelgebet besteht eine intensive Wechselbeziehung, stellt Vfn. fest. Für eine Analyse der Gebetspraxis in Hauskreisen war die Datenbasis in der Studie leider nicht ausreichend. Gebetsinhalte sind bei den meisten Probanden Bitten und Fürbitten um konkrete Hilfe und der Dank an Gott für Bewahrung und Unterstützung. Interessant, dass die Klage praktisch keine Rolle in Gebeten spielt!
Bemerkenswert kurz hingegen fallen die Bemerkungen zum Gebetsadressaten aus: »Lieber Gott« stellt demnach die häufigste Anrede dar, während ein evangelikales Gemeindeglied »Herr Jesus« favorisiert. Umso ausführlicher werden die Hoffnungen auf Ge­betserfüllungen beschrieben und reflektiert. Einen weiteren Schwerpunkt in diesem Kapitel stellen die Deutungen und Definitionen der Interviewpartner der eigenen Gebete dar: Für die meisten Gesprächspartner steht die Kommunikation mit Gott im Vordergrund, wobei die Erfahrungen aus der Kindheit oft eine entscheidende Bedeutung besitzen. Abgeschlossen wird dieser Teil der Arbeit mit Analysen zu Gebetserfahrungen in der Kindheit von Erwachsenen und von Gebeten mit Kindern. Interessant ist die Erkenntnis, dass Tischgebete von den Kindern in den Kindertagesstätten gepflegt werden und sie dann ihre Eltern animieren, diese Praxis auch im privaten Bereich einzuführen (93.97).
Praktisch-theologische Gebetsauffassungen stellt Kapitel 3 vor – sie sind der zweite große Schwerpunkt der gesamten Arbeit. Die Problematik, das persönliche Gebet zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen, zeigt sich auch hier wieder ganz schnell. Mangels der Möglichkeit, das reale persönliche Gebet zu analysieren, kommt das Subjekt des Gebets in den Blick.
Die dargestellten Gebetsauffassungen werden in fünf Kategorien eingeteilt: Unter der Gruppe »Gebet als Gespräch mit dem Gott der Offenbarung« werden – erstens – Traditionen zusammengefasst, die bei biblischen Vorstellungen ansetzen und oft ein offenbarungstheologisches Verständnis besitzen. »Gebete ohne personalen Gottesbegriff« – zweitens – werden als rationale Gebetsauffassungen interpretiert, weil sie ohne ein Gegenüber auskommen. Beter, die möglichst Abstand vom »Tun-Wollen« und allen Machbarkeitsvorstellungen zu gewinnen suchen, werden – drittens – als »Gebetsauffassungen der Passivität« zusammengefasst. Konzeptionen, in denen das Gebet viele unterschiedliche Vorstellungen zu­sammenführt (z. B. Miteinander von Leib und Seele, liebender und ferner Gott, Polarität zwischen Gebet und Gespräch oder auch meditative Vorstellungen), subsumiert die Vfn. – viertens – unter »mehrdimen­sionalen Gebetsauffassungen«. Schließlich – fünftens – werden Ge­betsvorstellungen, in denen das Leben des einzelnen Menschen im Vordergrund steht, als »biographische Gebetsauffassungen« eingereiht. Von besonderem praktisch-theologischen Wert sind an­schließend die Vergleiche der unterschiedlichen Entwürfe, wobei deutlich wird, wie unterschiedlich, zum Teil gegensätzlich, die Vorstel lungen zum Thema »Gebet« in der Praktischen Theologie sind. Ebenso wird herausgearbeitet, dass die meisten Gebetsauffassungen zwar selbst keine Gebetslehren sein wollen, manche es aber dennoch unausgesprochen und unverhüllt gleichwohl durch die Art der Interpretation sind oder gar doch insgeheim sein wollen!
Das abschließende 4. Kapitel unternimmt den spannenden Versuch, das empirische Material aus der Bayreuther Studie mit den Gebetsauffassungen, die im 3. Kapitel kategorisiert wurden, zu vergleichen. Natürlich ist dieses Unterfangen gewagt, und an manchen Stellen ergibt sich zwangsläufig die Problematik der Inkongruenz bzw. des Antagonismus. Gleichwohl überzeugen die Ergebnisse: Alle praktisch-theologischen Gebetsentwürfe z. B. ge­hen über die tatsächlich ausgeübte Gebetspraxis der befragten Ge­meindeglieder hinaus, gleichzeitig aber wird das konkrete Glaubensleben vieler Christen zu wenig in den Entwürfen wahrgenommen!
Die Vfn. leistet – zusammenfassend – für die Praktische Theologie einen sehr wichtigen empirischen Beitrag zu einem relativ vernachlässigten, zugleich aber für die Glaubenspraxis elementaren Thema. Die analytische Untersuchung zeigt vielfältige Aspekte zum Gebetsverständnis einzelner Christen auf, die differenziert dargestellt und eingeordnet werden. Bemerkenswert ist auch die unterschiedliche Wahrnehmung von Gemeindegliedern im Vergleich zu hauptamtlich Kirchenmitarbeitenden, aber auch die Di­mensionen, die von Kindern eingebracht werden bzw. von Prägungen, die aus der Kindheit stammen. Die Einheit von christlichem Glauben evangelischer Prägung und von Glaubensvollzügen wird eindrücklich nachgewiesen. Das Gebet wird als Teil der christlichen Spiritualität verstanden und überzeugend eingeordnet. Der Vfn. ist es gelungen, die Korrelation der Wirklichkeit Gottes und der Lebenswirklichkeit der Glaubenden im Gebet empirisch nachzuzeichnen und praktisch-theologisch zu deuten.