Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

118-119

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Bonaccorso, Giorgio

Titel/Untertitel:

Rito. Parole allo speccio.

Verlag:

Padova: Edizioni Messaggero 2015. 159 S. = Parole allo specchio. Kart. EUR 14,50. ISBN 978-88-250-3404-2.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Das (katholische) Pastoralliturgische Institut in Padua erarbeitet schon seit Längerem eine mehrperspektivische Liturgiewissenschaft, in der historische, systematische und humanwissenschaftliche Aspekte miteinander verbunden werden und der Bezug auf die Kategorie des »Ritus« fundamental ist (vgl. meine Besprechung von B.s früherem Buch: La liturgia e la fede [Padua 2005] in: ThLZ 134 [2009], 126–127). Die Bezüge zu den modernen »Ritual studies«, wie sie etwa in den Niederlanden von Paul Post u. a. betrieben werden, liegen auf der Hand. Das lässt sich besonders an diesem Band sehen, der die Kategorie des »Ritus« von verschiedensten philosophischen, soziologischen, kulturgeschichtlichen und neurophysiologischen Gegebenheiten her zu erschließen sucht. Der Band ist in einer Reihe kleiner Bücher unter dem Titel »Spiegelworte« erschienen, in deren Rahmen u. a. auch die Stichworte »Sorge« ( cura), »Empathie«, »Weg«, »Rhythmus« und »Schweigen« als »noch nicht abgenutzte Begriffe«, als Kategorien, die sich in vielfachen Spiegelungen und Brechungen in der Kultur finden, behandelt worden sind (159). An der Platzierung in dieser Publikationsreihe liegt es wohl, dass die Liturgie als der eigentliche Ausgangs- und Zielpunkt aller ritualtheoretischen Reflexionen in diesem Band kaum einmal explizit zur Sprache kommt. Auch die in letzter Zeit mit Recht diskutierte Frage, ob der liturgische Ritus überhaupt sinnvollerweise von einem allgemeinen Ritualbegriff her zu verstehen ist, wird in dem Band leider nicht angeschnitten.
Der Ritus ist nach B. dadurch gekennzeichnet, dass er »sowohl das bloße Effizienzdenken (puro efficientismo) vermeidet, das nur an den sozialen Resultaten einer Praxis interessiert ist, als auch den Intellektualismus, der nur an der Erarbeitung abstrakter Kategorien Interesse zeigt« (63). Die Grundorientierung des Ritus, seine »Intentionalität«, so heißt es unter Bezugnahme auf Husserl und Merleau-Ponty, ist eine leibliche und keine lediglich intellektuelle: »Wenn im Zentrum des religiösen Glaubens das rituelle Handeln steht, dann darf die Intentionalität, die für die Phänomenologie zentral ist, nicht an den Verstand ( mente), sondern sie muss an den Leib (corpo) gebunden werden mit der Konsequenz, dass man von einer Phänomeno-logie des cogito zu einer Phänomenologie der Wahrnehmung über-zugehen hat« (136). Die Intentionalität des Ritus impliziert »einen inkorporierten und keinen isolierten Verstand« (ebd.).
Nach einer Klärung der Grundbegriffe »Ritualismus«, »Ritualisierung«, »Ritus« (Kapitel 1, 13–29) werden klassische psychologische, soziologische und anthropologische Ritualtheorien vorgestellt (Kapitel 2, 31–55), bevor im dritten, dem umfangreichsten Kapitel (57–127), neuere, u. a. performative, linguistische und neurobiologische Dimensionen des Ritualbegriffs zur Sprache kommen. Hier ist u. a. die deutliche Unterscheidung von Ritual und Theater von Bedeutung. Zustimmend wird der amerikanische An­thropologe und Ritualtheoretiker Roy A. Rappaport mit seinem Werk »Ritual and Religion in the Making of Humanity« (1997, italienisch 2004) herangezogen. Rappaport setzt das »Publikum« von der »Gemeinschaft« ab: Während die »Gemeinschaft« am Ritual mit allen Implikationen partizipiere, verbleibe das Publikum einer westlichen Theateraufführung in der Rolle von Zuschauern und Zuhörern – es sei anwesend bei der performance, nehme aber nicht an dieser teil. Die Gemeinschaft habe bei einem Ritual aktiv zu handeln, während ein westliches Publikum nichts tun müsse. (87) Leider wird diese durchaus plakative Zuschreibung nicht weiter diskutiert; liturgietheologisch ist sie mit den Differenzierungen im Verständnis von participatio actuosa gewiss überholt.
Weiterführend ist dagegen die Einordnung der semiotischen Re­flexionen, indem die pragmatische Dimension des rituellen Zeichens mit der performativen in Verbindung gebracht wird. Die in letzter Zeit bisweilen (u. a. von Erika Fischer-Lichte) vorgebrachte Entgegensetzung des Semiotischen einerseits (als einer angeblich bloßen inhärenten »Bedeutung« im Sinne des Semantischen) und des Performativen andererseits wird dadurch überwunden (89–91). Hilfreich sind auch die Differenzierungen im Hinblick auf neurophysiologische Beschreibungen des religiösen und rituellen Handelns, hier wird einer identifikatorischen Logik klar entgegengetreten (122–127).
B. zieht eine Unmenge an Literatur heran, so dass sein eigener ritualtheoretischer Ansatz bisweilen dahinter zu verschwinden droht. Gleichwohl sind die Thesen B.s vor allem im Schlusskapitel (Kapitel 4, Fundamentale Bedingungen des religiösen Ritus, 129–146) deutlich zu erkennen: »Der Ritus sendet keine Botschaften, sondern er schafft Situationen – aber nicht deswegen, weil ihm die semantische Dimension fehlt, sondern weil er diese Dimension an die pragmatische bindet, bzw. weil er Aktion und Bewusstsein zusammenführt« (141). Denn »bevor das Bewusstsein Denken ist, das durch Begriffe konstituiert wird, ist es Ritual, das durch Handeln konstituiert wird« (26). Insgesamt ist der Ritus als ein Phänomen des Spiels zu interpretieren, so dass er sich im Bereich des Möglichen (»come se«) bewegt und nicht in Kategorien des zu Definierenden (»come è«) zu fassen ist (133).