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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

116-118

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Murphy, Jeffrie G.

Titel/Untertitel:

Punishment and the Moral Emotions.

Verlag:

Essays in Law, Morality, and Religion. Oxford u. a.: Oxford University Press 2012. 352 S. m. 1 Abb. Geb. US$ 82,00. ISBN 978-0-19-976439-6.

Rezensent:

Lorenz Kähler

Was bedeutet Vergebung? Wie unterscheidet sie sich von Rechtfertigung und Entschuldigung, Gnade und Versöhnung? Ist sie juris­tisch überhaupt von Bedeutung oder kann das Recht das Nachdenken über Vergebung der Theologie überlassen? Dies ist nur ein Ausschnitt der Fragen, die Jeffrie Murphy in »Punishment and the Moral Emotions« behandelt. Die beiden Titelbegriffe »Strafe« und »moralische Gefühle« reißen die Vielfalt der in ihm behandelten Themen nur an. Klarer verdeutlicht der Untertitel die Breite des Buches, das Essays zum Recht, zu Moral und Religion enthält, dabei aber stets eine Verbindung zur staatlichen Strafe wahrt. Nach Ankündigung M.s soll dies sein letzter derartiger Band sein. Dieser dokumentiert daher, zu welchen Überzeugungen er als einer derjenigen gekommen ist, die über Jahrzehnte über den Sinn staatlichen Strafens nachgedacht haben.
Bis auf eine Ausnahme sind die Essays bereits zuvor erschienen und für den Sammelband nicht überarbeitet. Daher sprechen sie zwar ähnliche Themen an, bauen aber nicht aufeinander auf. Auf diese Weise entsteht ein Bild von den vielfältigen Debatten, in die M. seine Gedanken eingebracht hat. Dem entspricht M.s Gedankenwelt, die ebenfalls von verschiedenen Überzeugungen ausgeht, ohne auf einer einheitlichen Theorie zu beruhen. Er selbst bezeichnet sich als Essayist mit einer Aufmerksamkeitsspanne von »ungefähr 40 Seiten« (222). Dahinter steht die Überzeugung, dass es in der Frage nach der Berechtigung staatlichen Strafens keine endgültige Antwort gebe und Ethik eher ein »Durchwursteln« (»Muddling Through«) beinhalte als eine Theorie über einen bestimmten Ge­genstand (272).
Die essayistische Darstellung hat den Vorteil, dass man die Kapitel dieses Buches einzeln lesen kann, ohne das gesamte Buch zu betrachten. Dem steht allerdings der Nachteil zahlreicher Wiederholungen gegenüber. So häufen sich nicht nur dieselben Zitate anderer Autoren wie etwa Michael Moores Anmerkung, dass kaum jemand »von uns« Frauen vergewaltigt und ermordet habe, womit sich dieser gegen die Gleichstellung mit Straftätern wendet (40. 82.125 und 132). Zudem kehren auch gleiche Passagen M.s wieder (etwa S. 196 nach S. 134; S. 267 nach S. 202). Eine Überarbeitung wäre daher wünschenswert gewesen und hätte auch dort geholfen, wo die Diskussion inzwischen fortgeschritten ist. So widmet M. ein ganzes Kapitel der Analyse des Supreme-Court-Urteils Bowers vs. Hardwick, welches die Bestrafung homosexueller Akte für zulässig hielt. Jedoch hat der Supreme Court dieses Urteil bereits 2003 aufgegeben, so dass eine Analyse des neueren Urteils Lawrence vs. Texas, 539 U.S. 558 nähergelegen hätte.
Für das Verständnis des Buches zentral ist die von M. an anderem Ort (Retribution, Justice, and Therapy, 1979, sowie Retribution Reconsidered, 1992) begründete Annahme, dass die Berechtigung einer staatlichen Strafe in der Vergeltung für die Tat liege. M. schildert zwar eine Reihe der damit verbundenen und ihm nunmehr stärker bewussten Probleme, sieht die Vergeltungstheorie dadurch aber nicht als widerlegt an. Daher bezeichnet er sich als einen Vergeltungstheoretiker wider Willen (»reluctant retributivist«) (86). So bedeute Vergeltung nicht, dem Täter eine Würde abzusprechen oder äußerste Härte anzuwenden. Überdies gelte es, Nietzsches Warnung ernst zu nehmen, im Kampf gegen Monster nicht selbst zum Monster zu werden. Man müsse in der Vergeltung Selbstgerechtigkeit vermeiden, die schnell zu Exzessen führe. Das setze voraus, die Täter »mit dem Auge der Liebe« zu betrachten (90). Gegenüber M. ist jedoch zu fragen, ob es für einen Achtungsanspruch im Recht nicht genügt, den Täter als Person ernst zu nehmen. Bereits damit ließe sich M.s Gedanke widerlegen, dass Täter ohne Gewissensbisse »– zumindest im Prinzip – eher Kandidaten für die Vernichtung als für die Bestrafung« sind (133). Das christliche Liebesgebot muss man dafür kaum strapazieren.
Auch an anderen Stellen verbindet M. Begriffe des Strafrechts mit religiösen Vorstellungen und Begriffen. So vergleicht er Reue mit religiöser Bekehrung, obgleich er beide voneinander unterscheidet (129 ff.). Dabei sind seine Betrachtungen zum Sinn des Strafens weniger von eigenen Bibelauslegungen oder theologischen Theorien geprägt als von Parallelen zwischen rechtlichen und theologischen Fragen sowie den dabei verwendeten Argumenten. Für den deutschen Leser mag die Argumentation dabei bisweilen grobrastig erscheinen, etwa wenn es heißt, dass wir »von Jesus und Kant lernen«, anderen nicht das Leid zuzufügen, welches sie verdienen (41). Allerdings bleiben auf diese Weise theologische Bezüge präsent, die in der deutschen Rechtsphilosophie praktisch vollständig verschwunden sind.
Die im Titel des Buches angesprochenen Gefühle meinen vor allem die Reaktionen auf Verbrechen wie die Abneigung gegenüber der Tat, Rachegelüste gegenüber dem Täter, Scham und Hass. Negative Gefühle sollten zwar für die Strafzumessung keine Rolle spielen, hätten aber ihre eigene Berechtigung. So spiegele sich in der Abneigung gegenüber Straftaten ein Selbstrespekt wider (11). Dass M. einerseits Vergebung für wichtig hält, andererseits an der Vergeltung als Sinn der Strafe festhält, liegt daran, dass beide einander nach seiner Auffassung nicht ausschließen (7.57). Zweifeln kann man allerdings daran, dass dies den Straftäter davon überzeugt, sich auf einen Prozess der Vergebung einzulassen. Zwar behält diese auch unabhängig vom Recht ihren Sinn, etwa wenn es um den inneren Frieden oder das Verhältnis zum Opfer geht. Gerade auch angesichts der von M. betonten Schwierigkeiten, die Ernsthaftigkeit von Reue zu beurteilen, liegt es dann jedoch näher, diese Versöhnung aus dem Recht weitgehend auszuklammern.
Zu den Stärken von M.s Essays gehört es, den Widerstreit von Argumenten zu verdeutlichen, der mit staatlichen Strafen verbunden ist. So erklärt er einerseits, warum Reue und Vergebung die Tat milder erscheinen lassen, auch wenn sie erst nach der Tat geschehen. Denn die in einer Straftat liegende Herabwürdigung des Täters werde dank der Reue beendet und so der mit der Tat einhergehende negative Kommunikationsakt aufgehoben. Andererseits beschreibt er die Gefahr einer vorschnellen Vergebung, die den notwendigen Selbstrespekt vermissen lasse und problematische Beziehungen aufrechterhalte (10 ff.). In gleicher Weise geht er zwar von der Berechtigung negativer Gefühle gegenüber der Tat und dem Täter aus, betont aber zugleich die Möglichkeit, sich in diesen Gefühlen zu irren (26 ff.). Eine Todesstrafe hält er nach eigener Beschreibung an manchen Tagen für gerechtfertigt, an anderen nicht (164). Das spiegelt die Zerrissenheit wider, die das Recht der amerikanischen Einzelstaaten und die Diskussionen darüber generell prägt.
Da M. dem Staat grundsätzlich die Berechtigung zur Bestrafung zuspricht, werden seine Überlegungen vor allem bei der Strafzumessung relevant. Hänge die Strafe etwa davon ab, ob die Tat von einem »harten, aufgegebenen und bösartigen« Herzen zeuge, müsse man sich vor Augen führen, wie schwer derartige Urteile über die »innere Bösartigkeit« seien und wie schnell man sich über seinen eigenen, vermeintlich besseren Charakter täusche (35 f.). Das gelte ebenso für Schuldeingeständnisse, die in einer »Kultur der Entschuldigung« vom Täter verlangt werden, deren Ernsthaftigkeit wegen ihrer strafmildernden Wirkung aber höchst fraglich seien (144 ff.).
Man muss zwar nicht M.s Ansicht teilen, dass man ohne Widerspruch einer Person vergeben und zugleich die Todesstrafe für sie verlangen kann (57 f.). Jedoch ist anzuerkennen, dass Vergebung und Vergeltung keine notwendigen Gegensätze sind, wie etwa eine mit Vergebung motivierte Strafmilderung verdeutlicht. Beide vermögen daher selbst zur gleichen Zeit, die Strafzumessung zu beeinflussen. M.s Essays erinnern vor diesem Hintergrund daran, dass jede Bestrafung zumindest implizit eine Antwort auf die damit verbundenen philosophischen und religiösen Fragen gibt, ob und wie stark man die Tat vergelten sowie welche Rolle eine Reue für die Strafzumessung spielen solle. Denn selbst wenn man eine ausdrückliche Antwort auf diese Fragen verweigert, ist die zugesprochene Strafe von der Ansicht darüber beeinflusst, welche Bedeutung Vergebung und Vergeltung zukommt. Dieser Einfluss auf die Strafzumessung ist von großer praktischer Bedeutung, weil der Richter in der grundsätzlichen Entscheidung zur Bestrafung zwar auf den Gesetzgeber verweisen kann, die genaue Strafe aber selbst festsetzen muss. Eine Entscheidung über Vergebung und Vergeltung kann er daher nicht vermeiden, und zwar in jedem einzelnen Strafurteil.