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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

114-115

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Lesch, Walter

Titel/Untertitel:

Übersetzungen. Grenzgänge zwischen philosophischer und theologischer Ethik.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg i. Br.: Verlag Herder 2013. 432 S. = Studien zur theologischen Ethik, 139. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-7278-1741-0 (Academic Press Fribourg); 978-3-451-34176-2 (Verlag Herder).

Rezensent:

Hartmut Kreß

Walter Lesch lehrt an der katholischen Universität von Löwen Moralphilosophie und Sozialethik. In seinem Buch hat er Beiträge zusammengestellt, die zuvor überwiegend im zurückliegenden Jahrzehnt publiziert worden waren. Sie betreffen ein breites Themenspektrum und werden in fünf Abteilungen unter die Überschriften »Grundlagen«, »Gesellschaftsethik«, »Kultur«, »Religion« und »Medizinische Ethik« gefasst. Der abschließende Ausblick (419) greift das Stichwort einer Ethik der Übersetzung auf, das man als Leitmotiv für den gesamten Band auffassen kann. Konzeptionell liegt dem Vf. daran, dass eine in verschiedenen Sprachspielen agierende und sich an der Grenze von Theologie und Philosophie bewegende Ethik permanent einem »kooperativen Übersetzen« (11) und dem Miteinander-Vermitteln divergierender Standpunkte und Überzeugungen verpflichtet sei. Im Prinzip knüpft er an Haber-mas an, der 2001 die Einbindung von Religion in den allgemeinen Ethikdiskurs angemahnt hatte (74 f.).
Insbesondere arbeitet der Vf. den Stellenwert von Hermeneutik für die Ethik heraus. Zu unterschiedlichen Hermeneutikmodellen wird im Grundlagenteil des Buches eine instruktive Übersicht geboten (31–68.101 ff.). In diesem Rahmen macht der Vf. auf die Bedeutsamkeit von Erfahrung, Lebensgeschichten und Lebenswelt für die Ethik aufmerksam, die eine Funktion als Anwalt gesellschaftlicher Konfliktbewältigung besitze (s. auch 420 ff.: »Ethik als exploratives Lernen« und »als moderierende Instanz«). Wenn man es so sagen möchte, wird Ethik im vorliegenden Buch als Irenik verstanden.
Dass theologische und philosophische Ethik heutzutage voneinander abgetrennte Spezialdisziplinen seien, lasse sich historisch erklären. Der Sache nach handele es sich bei beiden Disziplinen um Ausformungen von Ethik im umfassenderen Sinn (69). Zum Status katholisch-theologischer Ethik äußert sich das Buch apologetisch. Zwar sei die formale Bindung an das Lehramt und seien amtskirchliche Verweigerungen von akademischer Lehrbefugnis nicht abzustreiten. Doch Letzteres seien Einzelfälle. Für den freien rationalen Diskurs katholischer Morallehre sei die Lehramtsbindung nicht abträglich (70). Hierzu ist freilich die Rückfrage zu stellen, ob nicht doch indirekte und subtile Auswirkungen festzustellen sind, die bedenklich sind. Das restriktive katholisch-kirchenrechtliche Modell der Bindung universitärer Lehre und Forschung an außeruniversitäre Instanzen ist in Deutschland inzwischen anderweitig übernommen worden und erzeugt erhebliche Schwierigkeiten (Problematik der Islambeiräte bei der universitären Ausbildung von Islamlehrern). Der Vf. hält die formale Rückbindung katholischer Ethik an die Kirche indessen sogar für vorteilhaft, da sie bestimmte Lebensweltbezüge eröffne (76). Er bemüht sich mithin, die angesichts des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit und der sachlichen sowie institutionellen Autonomie von Wissenschaft auch wissenschaftstheoretisch fragile Lage der katholischen akademischen Moraltheologie als durchaus akzeptabel darzustellen. Zugleich betont er die Aufgeschlossenheit katholischer Moral für Pluralismus und soziokulturelle Veränderungen und plädiert im Anschluss an Habermas dafür, dass die gesellschaftlich inzwischen partikular gewordene christliche Moral sich säkular philosophisch explizieren können muss (96). Über diesem Öffnungspostulat und über dem Anliegen des »Übersetzens« gerät ein anderer Aspekt im vorliegenden Buch dann allerdings ins Hintertreffen. Denn es ist doch auch danach zu fragen und wäre inhaltlich zu konkretisieren, in welcher Hinsicht »weltliche« Argumente, heutiger kultureller Wandel und gedanklicher Fortschritt eine Revision tradierter moraltheologischer und kirchlicher Positionen und ggf. einen Bruch mit der Tradition erforderlich machen.
Davon abgesehen werden in den materialethischen Buchkapiteln lesenswert z. B. Herausforderungen der Globalisierung und einer kosmopolitisch interessierten Ethik entfaltet, auch mit einem Hinweis auf die Warnung Amartya Sens vor neuen religiösen oder kulturellen Identitätsfallen (148). Betont werden interkulturelle Kompetenz und Toleranz (227 ff.). Hervorzuheben sind die Abschnitte über Migration, Asylrecht und Freizügigkeit. Die Be­wältigung von Migration wird zu Recht als Prüfstein einer globalen Ethik der Menschenrechte und als Relativierung herkömmlicher nationalstaatlicher Souveränitätsansprüche gedeutet (121). Das materialreiche Buch behandelt auch wenig beachtete Fragen (241 ff.: »Gesellschaftskritik mit den Mitteln der Filmkunst«), erinnert an tradierte Leitideen, z. B. an die Lohngerechtigkeit (205 ff.), und erörtert bioethisch sensible Themen in anderen als den gewohnten Bahnen (383 ff.: »Der Embryo als lebendige Metapher«). Selbst wenn das Buch zu strittigen Themen eindeutige, amtskirchenkritische oder pointierte Positionierungen vermeidet, bietet es einen Beleg dafür, dass innerhalb der katholischen Moral- und Soziallehre herkömmliche normative, naturrechtlich substanzontologische oder essentialistische Denkmuster zugunsten lebens weltlicher Orientierungen und Vermittlungen überschritten werden.