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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

110-112

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Holderegger, Adrian, u. Werner Wolbert[Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Deontologie – Teleologie. Normtheoretische Grundlagen in der Diskussion.

Verlag:

Fribourg: Academic Press Fribourg; Freiburg i. Br.: Herder 2013. 388 S. = Studien zur theologische Ethik, 135. Kart. EUR 64,00. ISBN 978-3-7278-1721-2 (Academic Press Fribourg); 978-3-451-34169-4 (Herder).

Rezensent:

Christoph Seibert

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Sammlung von Aufsätzen zur Bedeutung und Reichweite der Unterscheidung zwischen de­ontologischen und teleologischen ethischen Ansätzen. Der Band ist in der Fribourger Reihe »Studien zur Theologischen Ethik« erschienen, in der insbesondere Arbeiten aus dem Bereich der Moraltheologie veröffentlicht sind. Das erklärt den Umstand, dass in ihm die Vertreter römisch-katholischer Theologie dominieren. Ein Zu­sammenhang zu einer vorausgehenden Tagung oder Konferenz ist dabei nicht erkennbar. Leitend ist vielmehr die Absicht der beiden Herausgeber, die angesichts ihres – mittlerweile bereits erfolgten – »Übergang[s] in den Ruhestand« noch einen »Beitrag« zu einer zukunftsweisenden ethischen »Grundlagendebatte« (11) liefern wollen. Dass gerade die Bearbeitung der ausgewählten Thematik diesen Beitrag erbringen soll, wird anfangs mit dem Verweis auf ein wahrgenommenes Defizit theologischer Ethik begründet: Im Un­terschied zu aktuellen Entwicklungen in der philosophischen Ethik sei es nämlich auffällig, dass im Bereich der Theologie keine weiterführende Arbeit an der Unterscheidung zwischen Deontologie und Teleologie zu erkennen sei. Um zu dieser Arbeit einen Anstoß zu geben, müsse deshalb vor allem zweierlei geleistet werden: zum einen eine Sichtung des gegenwärtigen Diskussionsstandes in Moraltheologie und Philosophie, zum anderen die Klärung der Frage, welche Konsequenzen sich daraus für die theologische Ethik ergeben (7). Beiden Aufgabenstellungen soll im Aufsatzband nachgegangen werden. Das geschieht im Rahmen einer vierteiligen Gliederung: Im ersten Teil geht es darum, die Begriffe »deontologische Ethik« und »teleologische Ethik« näher zu umreißen und nach der Vollständigkeit dieser Unterscheidung zu fragen (13–74); im zweiten und dritten werden jeweils theologische (75–178) und philosophische Standpunkte (179–248) dargestellt oder entwickelt, um schließlich im vierten Teil konkrete Anwendungskontexte in den Blick zu nehmen (249–381). Register sind dem Band keine beigefügt. Ich werde im Folgenden auf einzelne Gesichtspunkte der vier Abschnitte näher eingehen.
Der erste Teil wird von einer historisch orientierten Begriffsklärung eröffnet (A. Weiss), die die Ursprünge und Entwicklungen der Leitunterscheidung zwischen deontologischer und teleologischer Ethik ausgehend von Sidgwick über Broad und Frankena bis zum Moraltheologen Schüller rekonstruiert. Eine Pointe dieser Überlegungen besteht darin, jene Differenz auf der Ebene der Prinzipientheorie zu lokalisieren und sie möglichst in einem engen Sinn als kontradiktorischen Gegensatz zu verstehen. Der zweite Beitrag (W. Wolbert) knüpft an den ersten insofern an, als er danach fragt, ob jene Zweiteilung tatsächlich vollständig sei, oder ob man nicht einen rechtsbasierten Ansatz als dritte Größe neben dem teleologischen und deontologischen Standpunkt profilieren könne. Ohne die Berechtigung des »rights talk« zu bestreiten, wird gezeigt, dass dieser sich sowohl in ein pflichtzentriertes als auch in ein teleologisches Modell integrieren lasse. Im Zentrum steht dabei eine luzide Auseinandersetzung mit Mills »On Liberty«. Den Beiträgen des zweiten Teils ist trotz ihrer Unterschiedlichkeit gemeinsam, dass sie sich um Anknüpfungspunkte aus der eigenen theologischen Tradition bemühen, wobei sie sich zu ihr in ein mehr oder weniger kritisches Verhältnis setzen. Den Ausgangspunkt bildet eine produktive Auseinandersetzung mit der neuscholastischen Manua-listik, der zu Unrecht oft der Vorwurf des Legalismus gemacht werde (K. Demmer). Im Anschluss wird aus evangelischer Perspektive (R. Anselm) in Anknüpfung an die zwischen Herrmann und Troeltsch ausgefochtene Debatte um die Grundlegung der Ethik eine Option dargelegt, wie im Bereich evangelischer Ethik mit der Themenstellung umgegangen werde. Dabei kommt es zur Profi-lierung des Ideals des Reiches Gottes als inhaltlich offener und zugleich kritischer Integrationsgesichtspunkt ethischer Bemühungen. Der moraltheologische Diskurs wird sodann mit einer kritischen Analyse des Naturrechtsdenkens fortgesetzt ( E. Schockenhoff). Es wird allerdings nicht der Verzicht auf naturrechtliche Argumentationen ge­fordert, wohl aber eine im Anschluss an Kant gewonnene transzendentale Deutung dieses Traditionsstückes im Sinne der Frage nach den »unhintergehbaren Bedingungen der Möglichkeit freien sittlichen Handelns« (124) vorgenommen. An diese eher systematisch ausgerichteten Beiträge schließen sich zwei historisch orientierte Arbeiten an: eine Untersuchung der scholastischen Tradition (S. Ernst) sowie eine Auseinandersetzung mit dem weitgehend unbekannten anglikanischen Theologen und Philosophen Rash­dall (L. Reuter). Der dritte Teil wird von einem systematisch gehaltenen Beitrag eröffnet. Er weist zunächst eine Leerstelle im teleologischen Theoriedesign auf – der Würde des Menschen könne dort nicht hinreichend entsprochen werden –, die dann mittels eines deontologischen Ansatzes überwunden werden soll (H. Schnüriger). Es folgen zwei autorenbezogene Artikel: Im ersten geht es um die gerechtigkeitstheoretischen Ansätze von Rawls und Sen (F.-J. Bormann). Sen, so die These, rücke dabei von Rawls’ Fokussierung auf die Bedingungen vollkommener Gerechtigkeit (»ideal justice«) ab und fordere die Konzentration auf Bemühungen, die zur Eindämmung von Ungerechtigkeit führen. Diese Verschiebung lasse sich im Sinne einer »schleichenden Verabschiedung der Deontologie aus der Gerechtigkeitsdebatte« (206) interpretieren, freilich mit ungelösten Folgeproblemen vor allem mit Blick auf den Geltungsstatus der Menschenrechte. Der zweite Beitrag widmet sich der Theorie Kants ( D. Witschen) und führt vor Augen, dass die beliebte Klassifikation der Kantischen Ethik als deontologische Ethik zu Missdeutungen führe, da Kant an zentralen Stellen explizit teleologisch argumentiere. Er könne daher nicht als »Erzdeontologe« (227) in Anspruch genommen werden. Die Artikel des vierten, die Anwendungskontexte in den Blick nehmenden Abschnittes, zerfallen in drei inhaltliche Gruppen: Während die ersten beiden Aufsätze sich mit Fragen der Medizinethik auseinandersetzen (D. Birnbacher; M. Zimmermann-Acklin), widmen sich die nachfolgenden Artikel aus unterschiedlichen Perspektiven der Friedens- und Gewaltthematik (W. Lesch; W. Wolbert; G. Reichberg; J.-C. Wolf). Am Ende stehen etwas unvermittelt »Überlegungen« zur Tea-Party-Bewegung (J. Hagel). Gemeinsam ist diesen Beiträgen, dass sie in der einen oder anderen Weise auf die Unverzichtbarkeit der teleologischen Perspektive für den Umgang mit konkreten ethischen Problemfeldern hinweisen. Hervorheben möchte ich dabei zwei Untersuchungen: W. Lesch entwirft vor dem Hintergrund der Leitunterscheidung »Deontologie/Teleologie« eine eindrucksvolle Ty­pologie pazifistischer Überzeugungen, wo­bei es ihm gerade darauf ankommt, die Übergänge zwischen beiden normtheoretischen Perspektiven in den Blick zu nehmen. J.-C. Wolf zeigt auf, dass der Utilitarismus durchaus in der Lage sei, das Folterverbot zu rechtfertigen. Das gelte zwar nicht unbedingt für den Handlungs-, wohl aber für den Regelutilitarismus.
Fazit: Fragt man danach, ob die anfangs angekündigte Aufgabenstellung am Ende eingelöst ist, zeigt sich folgendes Bild: Was zunächst die moraltheologische und philosophische Bestandsaufnahme angeht, handelt es sich mit einigen Ausnahmen überwiegend um exemplarische Studien. Diese erschließen zwar wichtige Eckpunkte des Diskurses, können aber nicht als Bestandsaufnahme in einem umfassenden Sinn verstanden werden. Das ist im Rahmen eines solchen Bandes allerdings auch kaum zu leisten. Was die Bedeutung der skizzierten normtheoretischen Debatte für die theologische Ethik angeht, so liefert der Band weniger eine einheitliche Antwort, sondern zeigt von Artikel zu Artikel verschie-dene Gesichtspunkte auf, die zu einem Ganzen erst noch verbunden werden müssen. Als Gesamttendenz zeigt sich freilich, dass ethische Reflexion um die begründete, dabei aber stets riskante Vermittlung beider Perspektiven bemüht sein muss. Darüber hinaus liefert der Band interessante Einblicke, wie vor allem in der zeitgenössischen Moraltheologie mit diesem Thema umgegangen wird.