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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

902–904

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Levinson, Bernard M.

Titel/Untertitel:

Deuteronomy and the Hermeneutics of Legal Innovation.

Verlag:

New-York-Oxford: Oxford University Press 1997. XIV, 205 S. gr.8. Lw. £ 27.50. ISBN 0-19-511280-6.

Rezensent:

Jan Christian Gertz

Die Rechtstexte des Dtn markieren zweifellos einen grundlegenden Wandel in der Rechts- und Religionsgeschichte des antiken Israel. Das gilt besonders für den Gedanken der Kultzentralisation. Mit ihm stellt sich das Dtn in den Gegensatz zu den überkommenen Institutionen, und seine konsequente (d. h. anachronistische) Anwendung auf die zurückliegende Königszeit hat bekanntlich zu einer tiefgreifenden Neubearbeitung der älteren Geschichtsdarstellung geführt.

Die anzuzeigende Monographie B. M. Levinsons - sie geht auf eine bei M. Fishbane erarbeitete Dissertation zurück, die nach einem längeren Forschungsaufenthalt des Vf.s in Deutschland völlig überarbeitet wurde - behandelt nun die Frage, auf welche Weise die Verfasser des Dtn versucht haben, ihr Programm einer tiefgreifenden Umformung der altisraelitischen Religion und Gesellschaft gegenüber bestehenden Institutionen und Autoritäten, vor allem derjenigen älterer Rechtsüberlieferungen, zu legitimieren. Einen Ansatzpunkt für eine Beantwortung bietet nach L. der häufig festgestellte Sachverhalt, daß zwischen den Rechtssammlungen des dtn Gesetzes in Dtn 12-26 und des Bundesbuches in Ex 21,1-23,19 sprachliche und inhaltliche Übereinstimmungen ebenso unverkennbar sind wie grundlegende Differenzen. Da L. das Bundesbuch generell für den älteren Text hält, deutet dieses ambivalente Verhältnis zwischen beiden Rechtssammlungen seines Erachtens darauf hin, daß die dtn Verfasser den älteren Text des Bundesbuches überarbeitet haben, woraus freilich das Problem des Umgangs der dtn Verfasser mit den älteren Geltungsansprüchen des Bundesbuches resultiert. Die vor diesem Hintergrund gestellte Frage nach der Legitimation der dtn Neuerungen führt zu der These, daß die dtn Verfasser Schlüsseltexte des Bundesbuches neu kontextualisiert und interpretiert haben. Dies sei auch gegen den ursprünglichen Sinn der vorgegebenen Texte geschehen, was nach L. geradezu als Kennzeichen eines dartigen "textual recycling" bzw. "literary recycling" (6; 33 u. ö.) gelten kann, insofern die sinnverändernde Verwendung älterer Begrifflichkeit die dtn Intention einer radikalen Umformung der altisraelitischen Religion und Gesellschaft unter dem hermeneutischen Vorzeichen der Kontinuität verberge: "The authors of Deuteronomy employed the Covenant Code ... in order to purchase the legitimacy and authority that their reform agenda otherwise lacked. The reuse of the older material lent their innovations the guise of continuity with the past and the consistency with traditional law" (21). Darüber hinaus biete die Einsicht in die dtn Rezeption des Bundesbuches eine Erklärung für das Problem der Ordnungskriterien der dtn Rechtssätze, da sich in der vermeintlichen Unordnung des dtn Gesetzes eben diese Rezeption niederschlage.

In der Durchführung seiner These versucht L. dann am Beispiel von drei zentralen Textbereichen zu zeigen, wie weitreichend die dtn Umformung der überkommenen israelitischen Religion und Gesellschaft gewesen ist und wie die Verfasser des dtn Gesetzes ihr Programm hermeneutisch durchgeführt haben. Untersucht werden die Bestimmungen zur Kultzentralisation in Dtn 12 (23-52), zum Passa und Mazzotfest in Dtn 16 (3-97) und zur Ordnung des Gerichtswesens in Dtn 16,18-17,13 (98-143), die nach Ansicht L.s jeweils ältere Parallelen im Bundesbuch unter dem Gesichtspunkt der Zentralisationsidee umgestaltet haben.

Vorlage der Bestimmung zur Zentralisation des Kultes in Dtn 12 sei das Altargesetz in Ex 20,24-26. Der Prozeß, die Autorität älterer Texte durch wörtliche Aufnahme für die Einführung neuer Vorstellungen zu nutzen und dadurch zugleich die Intention dieser Vorlagen auf den Kopf zu stellen, laufe hier etwa über das Lexem zbh. in der Bedeutung "schlachten" und die anschließende Liste der Tiere. Anders als in der Vorlage Ex 20,23 werde zbh. profan gebraucht und habe nicht mehr die Bedeutung "opfern"; die Liste der Tiere bezeichne keine Opfertiere mehr, sondern den profanen Fleischgenuß: "By means of this reworking, the Deuteronomic au-thors turn the older Exodus altar law against itself" (32 f.).

Für die Bestimmungen zum Passa und Mazzotfest verweist L. auf Ex 23,14 f.18 (und Ex 12,21-23) als Vorlage. Das Passa werde zentralisiert und das Mazzotfest von den Lokalheiligtümern an die "Tore", d. h. in die Ortschaften selbst verlegt, mithin profanisiert.

Die Bestimmungen zu den Gerichtsinstitutionen formen Regelungen zum kultischen Gerichtsentscheid in Ex 22,6 ff. dergestalt um, daß sie unter dem Vorzeichen der Zentralisation die profane Institution der professionalisierten Lokalgerichte im Lande nach Dtn 17,2-7 und des kultischen Gerichtsentscheides am Zentralheiligtum nach Dtn 17,8-13 dialektisch aufeinander beziehen: "The two paragraphs dialectically cohere both topically and in their terminology. The two cases interlock: they restrict the local sphere to secular legal activity ..., and they restrict cultic recourse for ambiguous legal cases to the central sanctuary" (130).

Rückfragen an den Autor der wichtigen Untersuchung betreffen zum einen die Erklärungsleistung des hermeneutischen Modells eines "textual recycling". Der Begriff des Recycling beinhaltet doch, daß das Alte wiederverwertet wird, in diesem Prozeß ganz im Neuen aufgeht und damit "entsorgt" ist. Insofern die alten Rechtssammlungen weiter tradiert werden, ist dies bei der Aufnahme des Bundesbuches im dtn Gesetz (und später bei dessen Aufnahme im Heiligkeitsgesetz) aber gerade nicht der Fall. Bleibt die Vorlage im Schriftganzen erhalten und gilt sie den Rezipienten als Ausdruck des Gotteswillens, so wird man die von L. gestellte Frage, wie die Verfasser des Dtn ihre Neuerungen gegenüber vorliegenden Rechtstexten legitimieren, kaum damit beantwortet haben, daß mit einer eigenwilligen Zitationspraxis die göttliche Autorität gegenläufiger Vorlagen reklamiert wurde. Das Problem wird dadurch verschärft, daß die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen den Rechtssammlungen nicht einlinig sind. Es genügt, hier an die komplizierten Beziehungen zwischen Dtn 16,18-20 und Dtn 1,9-18 (von L. nicht berücksichtigt) sowie Ex 23,6.8 zu erinnern. An diesem Punkt urteilt L. mit Blick auf die Literatur etwas vorschnell, wie überhaupt die mühevolle Arbeit literarhistorischer Verhältnisbestimmungen auch innerhalb der dtn Gesetze zuweilen zu kurz kommt (vgl. etwa 118 ff. zu Dtn 17,2-7 und 13,7-12).

Eine nach rechts- wie literarhistorischen Gesichtspunkten differenzierter angelegte Untersuchung hätte dann vielleicht auch zu dem Ergebnis geführt, daß nicht jede Neuerung des dtn Gesetzes allein durch die Zentralisationsidee motiviert ist. Denn schon für den ältesten Bestand der Gesetze läßt sich der Einfluß einer fortschreitenden juristischen Begriffsbildung auf die Formulierung der sogenannten Zentralisationsgesetze zeigen, und auch die Professionalisierung der Lokalgerichtsbarkeit wird man nicht als unmittelbaren Ausfluß der Zentralisationsidee ansehen müssen. Gleichwohl: L. hat ein anregendes Buch vorgelegt, dessen Einsichten die Dtn-Exegese und die Forschung zur Rechtsgeschichte des antiken Israel voranbringen. Darüber hinaus ist es sein großes Verdienst, daß im Gespräch mit der nach Kontinenten wie Konfessionen sehr unterschiedlichen Dtn-Forschung in Erinnerung gerufen wird, welche Möglichkeiten die Methoden der rabbinischen Schriftauslegung für das Erfassen innerbiblischer Textrezeption bietet.