Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

108-110

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Demmer, Klaus

Titel/Untertitel:

Selbstaufklärung theologischer Ethik. Themen – Thesen – Perspektiven.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2014. 238 S. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-506-77944-1.

Rezensent:

Lukas Ohly

Vor dem Hintergrund seines Todes im Jahr 2014 erscheint das Buch von Klaus Demmer wie ein Resümee seiner Lebensleistung als Moraltheologe. Der Sprachstil mit seinen kurzen und unverschnörkelten Sätzen bleibt dabei mehr beschreibend als begründend. Man kann das Buch einen theologisch-ethischen Ansatz nennen, wenngleich materialethische Themen nur sehr reduziert vorkommen und allenfalls illustrative Funktion haben. Zudem hat D. seine Grundbegriffe bereits in seiner Methodenlehre von 1989 be­stimmt. Das Ziel dieses Buches liegt dennoch in der methodischen Grundlegung moraltheologischen Denkens sowie in seiner Ermutigung, dieses Denken trotz des Gegenwindes der »Dissensgesellschaft« (121.233) in Anschlag zu bringen. In seinen materialethischen Themen reduziert sich D. fast ausschließlich auf die Statusfrage des Embryos (71 ff.165 ff.186 f.213 ff.) sowie auf die Ethik von Paarbeziehungen (77 ff.116 f.152 f.). Dass wirtschafts- und politisch-ethische Themen (97 f.104 f.127.206) dagegen nur rudimentär verhandelt werden, scheint mir konzeptionelle Gründe zu haben. Trotz des Bekenntnisses D.s zur Demokratie und zur Politik als Gegenüber (206) äußert er Bedenken gegen einen auf Dauer gestellten Pluralismus (207.212). Ein moraltheologischer Beitrag zur De­mokratietheorie wird dagegen nicht versucht, außer über eine tugendethische Einbettung des Einzelnen (206) und eine substanzielle Abhängigkeit des Staates von »Überzeugungsgemeinschaften, darunter in vorderster Front von der Kirche« (127). Sie gibt mit ihren unaufgebbaren Wahrheitsansprüchen dem politischen Wettbewerb eine Verbindlichkeit, die das demokratische Kompromissverfahren von sich aus nicht hat (212).
In der methodischen Grundlegung verbindet D. eine philosophische »Wende zum Subjekt« (78) mit einer theologischen Mystik (43.201.238). Der Blick ins geistige Innen entkommt methodisch der »schleichende[n] Naturalisierung des Geistes« (70), um »die Autonomie des Geistes zu retten« (ebd.). Erst die »unmittelbare Selbstgewissheit« (17) eröffnet »den Zugang zur Welt empirischer Gegenständlichkeit« (ebd.). Der auf sein Innen gerichtete Geist entdeckt sich folglich als »autonome Transzendenz« (173), die sich mit dem »Übergegenständlichen« Gottes schneidet (157). D. spricht von einer »Transzendentaltheologie« (30.32.157): »Innerlichkeit be­zeichnet […] jenen privilegierten hermeneutischen Ort, an dem Selbstbewusstsein und Gottesbewusstsein einander berühren und eine Vollzugssynthese herstellen« (61). Gleichgesetzt werden Selbst und Gott jedoch nicht, denn dabei würden sie gegenständlich identifiziert. Vielmehr wird die Synthese im Vollzug erreicht: Für beide gilt gerade aufgrund ihrer Übergegenständlichkeit Anselms Diktum, dass darüber hinaus nicht mehr gedacht werden kann. D. versteht die Innerlichkeit als »Dimension, die über einen verstehenden wollen Zugriff hinausreicht« (215).
Die Brücke für eine Transzendentaltheologie bildet die Christologie, vor allem die Inkarnationstheologie, weil in ihr das »eini-gende Band« liege, »das alle auseinander strebenden Kräfte um­schlingt« (204). Wenn Gott im Menschen zu finden ist, empfiehlt sich hierfür jener »Innenbereich, der ein uneinholbares Voraus für sich beansprucht« (187). D. selbst betont zugleich das kreuzestheologische Element in seiner Moraltheologie (45 f.101 f.192 f.), weil »Verwerfungen, Verstrickungen und Teufelskreise […] von innen her aufgebrochen« sind (45). Auch hier beruft sich D. auf Anselm, weil eine solche Konfliktgeschichte nicht mehr denkerisch gesteigert werden könne. Für mich haben sich diese christologischen Zusammenhänge nicht leicht erschlossen, und mir erschienen die moraltheologischen Konsequenzen (Solidarität: 46, Leidbefähigung: 102, Kasuistik: 193) eher assoziativ. Denkbar scheint mir allerdings, dass D. die Kreuzestheologie als narrative Selbsterschließung sieht, denn »der Gott Denkende […] erzählt sein Leben nach« (179). Im Erzählen wird das Übergegenständliche gewahrt aufgrund seines Prozesscharakters (vgl. 229). Somit bildet sich in der Kreuzestheologie das narrativ nach, was sich inkarnationstheologisch in einer mystischen Begegnung zeigt.
Es ist ein Anliegen des Buches, naturrechtliche und moraltheologische Aussagen revisionsfähig zu machen (»Nachbesserung«, 63). »Ein unverrechenbarer Überschuss blieb und bleibt immer« (24). Dabei hilft D. sein hermeneutischer Ansatz, den er mit historischer Kritik verbindet (27.100). Materialethisch wirkt er sich aus in einer differenzierten Betrachtung der Homosexualität (142), in einer Kontingenz des Embryostatus (186, vgl. 230) und in D.s liberaleren Einstellung zur Wiederverheiratung nach einer gescheiterten Ehe (116). Dieses hermeneutische Anliegen macht D.s Ansatz für eine evangelische Ethik anschlussfähig. Allerdings müsste dazu das Verhältnis zwischen Transzendentaltheologie und hermeneutischer Theologie erst noch bestimmt werden.