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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

103-104

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Pettit, Philip

Titel/Untertitel:

Gerechte Freiheit. Ein moralischer Kompass für eine komplexe Welt. Aus d. Amerik. v. K. Wördemann.

Verlag:

Berlin: Suhrkamp Verlag 2015. 307 S. Geb. EUR 29,95. ISBN 978-3-518-58622-8.

Rezensent:

Wolfgang Erich Müller

Der in Princeton lehrende Philosoph P. entwickelt in dem vorliegenden Buch eine normative Theorie der Gerechtigkeit, die auf einer Gleichsetzung von Gerechtigkeit und Freiheit basiert. Die gerechte Freiheit eines Menschen bestimmt P. nicht als eine Nichteinmischung in seine Belange, sondern als eine Nichtbeherrschung seitens Anderer.
Diesen individualethischen Gedanken weitet P. zu einer politischen Philosophie aus, in der sozialethisch das Verhältnis der Menschen zu ihrem Staat und schließlich das Verhältnis der verschiedenen Völker der Welt reflektiert werden (Teil II, 115–243). Zuvor aber entwickelt er in Teil I (29–113) die Geschichte der republikanischen Idee der Freiheit als Nichteinmischung seit ihrer Entstehung in der römischen Republik und aktualisiert »die reiche republikanische Konzeption von Freiheit zu einem Ideal für die Gegenwart« (35).
In der römischen Republik wurde das abstrakte Ideal »vom gleichermaßen freien Bürger« erstmals entwickelt und ist seitdem »fest im europäischen Bewusstsein verankert« (38). Im Republikanismus – in der Neuzeit von Locke und Kant prominent vertreten – dient das Recht dazu, die unantastbare Freiheit der Bürger als Nichtbeherrschtwerden abzusichern, während P. den klassischen Liberalismus und den heutigen Libertarismus als Denkschulen der Nichteinmischung charakterisiert, die damit einen geringen Grad an Freiheit garantieren.
Seine Aktualisierung republikanischer Einsichten führt P. zu seinem Kernargument bezüglich der Freiheit als Nichtbeherrschung, indem er Freiheit in zwei Schritten zunächst als »Eigenschaft von Wahlentscheidungen« und dann als eine »Eigenschaft von Personen« (67) entwickelt. Demnach beinhaltet die Wahlfreiheit »die Fähigkeit […] jede zur Wahl stehende Option« (82) nach eigenen Präferenzen und mit eigenen Ressourcen zu realisieren, ohne dass Andere ihre Präferenzen aufzwingen können. Um nun als freie Person zu gelten – gemäß der Tradition republikanischen Denkens –, bedarf es, über die Wahlfreiheit hinaus, objektiv gesicherter Rechte durch den Staat, vermittels derer sich die Bürgerinnen und Bürger als Gleiche anerkennen können.
So können die Grundfreiheiten etabliert werden, die P. im We­sentlichen als Rede-, Religions-, Vereinigungsfreiheit, Eigentumsmöglichkeiten und Freizügigkeit konkretisiert, wobei er jeder Kultur oder Gemeinschaft zwar deren fallweise andere Be­stimmung einräumt, aber grundsätzlich resümiert: »Wenn die Gesellschaft jedes ihrer Mitglieder auf dem Gebiet der Grundfreiheiten vor der Gefahr einer Einmischung durch andere abschirmt, wird sie überzeugend als eine gerechte Gesellschaft gelten.« (113)
So hat jede Person in einer gerechten Gesellschaft die Ressourcen, um »die Grundfreiheiten in Anspruch zu nehmen« (117), ohne der Herrschaft Anderer unterworfen zu sein. Es entspricht P.s republikanischem Ansatz, dem Staat eine unverzichtbare Rolle für die Aufrechterhaltung einer zivilen und wirtschaftlichen Ordnung einzuräumen, einschließlich der Einrichtung von Sozialversicherungen gegen fundamentale Formen von Verletzbarkeit. Auch wenn P. keine strikte materielle Gleichheit der Bürgerinnen und Bürger erstrebt, so sollen sie doch »beim Genuss von Freiheit als Nichtbeherrschung als Gleiche gelten« (141 f.). Zur Sicherstellung einer solchen unverzerrten Interaktion führt P. seinen sogenannten Blickwechsel-Test (141–145) ein, mit der die Perspektive eines Anderen eingenommen wird und das eigene Handeln im Sinn der Nichtbeherrschung korrigiert werden kann.
Neben diesem Sachverhalt der sozialen Gerechtigkeit (117–152) tritt P. mit einer genauen Reflexion der demokratischen Kontrolle des Staates durch die Bürger (153–200) in den Bereich der politischen Gerechtigkeit ein und wendet sich dann auf der Ebene der Beziehung der souveränen Staaten der internationalen Gerechtigkeit (201–243) zu. Diese Kapitel werden gemäß P.s republikanischem Ansatz ausgeführt, indem der Grundgedanke der individuell bestimmten Gerechtigkeit zunächst auf die Institution der innerstaatlichen Demokratie angewendet und dann auf die Beziehung der souveränen Staaten ausgeweitet wird, die entsprechend über demokratisch geprägte »internationale Regeln und Organisationen laufen muss« (223). Damit dehnt P. seinen Ansatz folgerichtig von der individuell bestimmten Freiheit über deren demokratische Sicherung im eigenen Staat auf die Staatengemeinschaft aus.
P. legt mit diesem Buch keinen als Handlungsrezept verstandenen Kompass vor, wie gerechte Freiheit gegen persönliche Interessendurchsetzung gesichert werden kann. Vielmehr entwickelt er mit seinem Ideal der republikanisch verstandenen Freiheit eine Form der Entscheidungsfindung angesichts der bestehenden und künftigen Herausforderungen der Weltgemeinschaft, indem er einen Weg weist, wie Andere als Gleiche behandelt werden können. Mit einem solchen zweifellos nicht leicht handzuhabenden Kompass weist er der gegenwärtigen politischen Philosophie eine weiterführende Perspektive für eine immer komplexer werdende Welt auf.