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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

78-81

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Winter, Friedrich

Titel/Untertitel:

»Weg hast du allerwegen«. Mein Leben als Theologe im Osten Deutschlands.

Verlag:

Berlin: Wichern-Verlag 2015. 320 S. m. Abb. Kart. EUR 19,95. ISBN 978-3-88981-393-0.

Rezensent:

Gert Haendler

Friedrich Winter wurde 1927 als sechstes Kind einer Pfarrerfamilie in Soest geboren. 1936 wurde sein Vater Superintendent der pommerschen Kleinstadt Loitz. W. beschreibt wachsende Bedrängnisse der Kirche. Trotz Verbot folgte sein Vater Bitten um Amtshandlungen in den Lagern der Fremdarbeiter. »Was diese Generation älterer Pfarrer im Zweiten Weltkrieg geleistet hat, sollte nicht vergessen werden.« Im Februar 1944 wurde der 16-jährige W. Marinehelfer und im Dezember 1944 Soldat. Im Februar 1945 wurde er schwer verwundet, vorher hatte er ein Gelübde abgelegt: »Wenn ich hier herauskomme […] will ich Gott ungeteilt dienen und Pastor werden.« Nach dem Abitur in Osnabrück 1946 kehrte W. in die Heimat zurück und begann – zumal auf Drängen von Rudolf Hermann – in Greifswald 1947 Theologie zu studieren. Er erinnert an die Anfänge der Bachtage und Rügenfahrten der Studentengemeinde. Als Student in Berlin erlebte W. die Spaltung der Stadt 1948/49. Zuletzt studierte er in Rostock, wo er 1952 bei Martin Doerne promovierte. 1951 legte er vor dem Greifswalder Konsistorium das erste Examen ab und wurde Vikar, 1953 ordinierte ihn Bischof von Scheven. W. vollzog Trauungen auch von Offizieren der »Kasernierten Volkspolizei«, der Vorläuferin der Nationalen Volksarmee. Für den Bau einer kleinen Kirche konnte er »etwa ein Drittel der Bevölkerung aktivieren«. 1954–60 war er Studentenpfarrer in Greifswald und erlebte 1956 das Universitätsjubiläum. Damals zahlten etwa 75 Prozent des Lehrkörpers und des technischen Personals Kirchensteuer, ordentliche Professoren zu 90 Prozent. Er heiratete 1954 eine Biologiestudentin und Pastorentochter von der Insel Rügen, für deren Hilfe er immer wieder dankt. 1960 führte ihn Bischof Krummacher als Superintendenten in Grimmen ein. Die Mehrheit der Bevölkerung legte auf eine kirchliche Beerdigung wert, aber bei Taufen, Konfirmationen und Trauungen gab es Einbußen. Die mit Druck geförderte Jugendweihe zwang die Kirche 1960 zur Kursänderung.
Das Kapitel »Hochschullehrer in Berlin« (1964–1973) erinnert an das Sprachenkonvikt in der Berliner Innenstadt: Die Golgatha-Kirche, die Hinterhöfe, das Leben jener Einrichtung am Rande der Legalität, die sich bis 1964 zur selbständigen Hochschule entwi-ckelt hatte. Im 36 km entfernten Rüdersdorf kam er mit der Familie unter, der älteste Sohn wurde nicht zur EOS zugelassen, Mitarbeit im Elternaktiv der Schule war unerwünscht, zur Beerdigung seines Vaters durfte er nicht in den Westen reisen. Erfreulich war die Zusammenarbeit mit seinem Kollegen Jürgen Henkys. 1966 wurde W. Rektor, 1968 brachte der Prager Frühling einen Prozess gegen drei Studenten. Er veröffentlichte »Zehn Kapitel zur christlichen Ehe« (1972) und die Arbeit »Auf der Suche nach dem Partner – Zusammenwirken von Mann und Frau« (1974). Zum Handbuch für Praktische Theologie, das die Theologischen Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen gemeinsam erarbeiteten, lieferte W. den Beitrag über die Predigt (1976). Auch er hatte unter der Zensur zu leiden: Sein Buch »Seelsorge an Sterbenden und Trauernden« kam endlich 1976 heraus – mit vier Jahren Verzögerung nach 60 Einwänden einer (bis 1990) anonymen Gutachterin.
Im Herbst 1973 wurde W. Propst im Konsistorium der Ostregion der Kirche Berlin-Brandenburg. Bischof Schönherr nannte ihn »Bischof im Innendienst«, ein SED-Funktionär bezeichnete ihn als »Chefideologen«. Er bekam eine Wohnung in Köpenick, zwei Töchter besuchten das katholische Mädchengymnasium. Im Konsistorium war er zuständig für Predigt und Seelsorge, Probleme des Wehrdienstes drängten: Totalverweigerer gingen ins Gefängnis. Es kam zu Erleichterungen durch Verhandlungen und Fürbitten in Gemeinden. »Ab 1985 hatten wir keinen bestraften Verweigerer mehr.« Kollegen aus Westberlin kamen einmal in der Woche nach Ostberlin, um an Kirchenleitungssitzungen teilzunehmen, für W. blieb Westberlin verschlossen. Das »Kulturerbe wurde als Geschenk entdeckt«, es bewirkte Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen und aktivierte viele Gemeinden. Das Kapitel »Politische Seelsorge« berichtet von der kirchlichen Beisetzung des von seiner Partei angefeindeten Altgenossen Robert Havemann 1982. Das Problem »Ausreisewillige« nahm seit 1983 größere Ausmaße an. W. würdigt das Treffen zwischen Bischof Schönherr und dem Staatsratsvorsitzenden Honecker am 6. März 1976. Eng arbeitete W. mit Manfred Stolpe zusammen, der eine »umsichtige und weit über sein Amt im engeren Sinne hinausgehende Steuerung kirchlichen Lebens« wahrnahm. Bei größeren Schwierigkeiten mit der Regierung »schuf Stolpe den nötigen Ausgleich«. Die Bischöfe Schönherr und Forck haben sich »je für ihre Zeit durch ihr kirchenpolitisches Handeln für das Leben der Kirche Verdienste erworben«. Umstrittene Künstler traten auf unter dem Dach der Kirche: Wolf Biermann, Günter de Bruyn, Franz Fühmann, Stephan Heym, Rolf Schneider, Christa Wolf. Seit 1979 gab es Ökologiegruppen, Menschenrechtsgruppen und Friedensgruppen; die bei jungen Leuten beliebten Bluesmessen begannen, für die sich W. von Beginn an eingesetzt hat. Unruhe brachte 1982 der Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«, den sich Bischof Forck auf die Aktentasche geklebt hatte. Eigene Forderungen trug man vor beim Gedenken zum 300. Jahrestag des Toleranzedikts 1985. Stolpe und W. gelang 1987 der Druck des Berichtsbandes »Wege und Grenzen der Toleranz. Edikt von Potsdam 1685–1985«, das deutliche Sätze enthielt, deren Druck vorher unmöglich gewesen war.
Die Probleme blieben bei W.s Wechsel in das Amt des Präsidenten der östlichen Kirchenkanzlei der Evangelischen Kirche der Union (1986–1991). Im Zusammenhang mit dem Theologischen Ar­beitskreis für reformationsgeschichtliche Forschung (TARF) stellt W. fest, dass staatlichen Stellen eine Beschäftigung mit dem in ihren Augen konservativen Martin Luther lieber war als die mit dem revolutionären Theologen Müntzer. Eng waren die Kontakte zu den Gliedkirchen in der DDR, Westkollegen kamen alle vier Wo­chen zu Sitzungen nach Ostberlin; auch W. durfte einige Male in den Westen reisen. Effektiv gestaltete sich die Zusammenarbeit mit dem Bund evangelischer Kirchen in der DDR, »im Grunde war es gleich, ob unsere Oberkirchenräte bestimmte Aktivitäten unter dem Firmenschild der EKU oder des Bundes ausrichteten«. Professoren der Sektionen konnten jetzt »über kirchliche Wege an theologischen Kongressen teilnehmen«. Der Staatssekretär für Kirchenfragen Klaus Gysi wurde im Sommer 1988 plötzlich abgelöst und sprach beim Abschiedsbesuch offen über die Unzufriedenheit der Bevölkerung, die seine Partei nicht sehen wolle. W. war von der Kirche aus zuständig für die Restaurierung des Berliner Doms, bei der auch das Haus Hohenzollern beratend mitwirkte. Wichtige staatliche Unterschriften stammten vom DDR-Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski. Unverändert hart blieb das DDR-Presseamt wegen der Kirchenzeitung auch noch in der Ära Gorbatschow. Deutlich sichtbar wurde die Wende auf der Synode des Kirchenbundes in Eisenach im September 1989; sie trat »geschlossen auf die Seite der radikalen Kräfte, die eine völlige Veränderung der DDR-Gesellschaft herbeiführen wollten«.
W. war am 7. Oktober 1989 Gast bei der Feier zum 40. Jahrestag der DDR und sah Ehepaar Gorbatschow aus der Nähe, das Politbüro erschien »wie die Gruppe von Bewohnern eines Seniorenheimes«. W. schildert die tiefen Umbrüche, die sich für die Kirche ergaben. »Die Vorstellung mancher EKU-Synodaler, dass man mit der erneuten Vereinigung große Sprünge in der Kirchenreform verbinden könne, erwies sich als Trugschluss. Es war realistisch, zu den bekannten alten Strukturen zurückzukehren.« W. musste seine östliche Kanzlei auflösen, dabei erinnert er an »großzügige Hilfsbereitschaft und Offenheit« auf westlicher Seite. Er sieht, »dass die Kirche in die nervösen Zuckungen innerhalb der Gesellschaft hineingenommen wurde, aber bei ihrer Sache blieb und zugleich dankbar für die neue Einheit sein konnte«. Die drei kirchlichen Hochschulen in Ostberlin, Naumburg und Leipzig wurden im September 1990 von der letzten DDR-Regierung als Hochschulen anerkannt und 1991 in die staatlichen Fakultäten in Berlin, Halle und Leipzig integriert. Zum 1. Januar 1992 wurde W. emeritiert, blieb aber aktiv. Er sprach mit Menschen, die zu ihrer Kirche zurück wollten: »In den 7 Jahren bis 2005 hatte ich 222 Gespräche und vollzog 115 Wiedereintritte.« Neue Stimmen wurden laut, die Kirche sei durch ihre Beteiligung an der Wende mit schuld an der Lage: »Millionen Menschen wurden aus der Bahn geworfen, die große Zahl an Arbeitslosen stellte ein völlig neues Problem dar.«
Stasiakten stufen W. stets als »Feind« bzw. »negativ« ein, Neigung zu Gesprächen mit Informanten empfand er nicht, nur einem Menschen hat er für positive Berichte gedankt. W. hat mehreren Landeskirchen bei der Aufarbeitung der Probleme geholfen und war 1997 an einem Bericht beteiligt, der feststellte, dass die Quote der für die Stasi arbeitenden Pfarrer bei ein bis zwei Prozent gelegen hatte. Die Kirche solle sich nicht einschüchtern lassen durch Diffamierungen oder Vorwürfe, sie habe sich in der DDR »übel angepasst«. 1994 legte W. eine Broschüre vor »Die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg im Spiegel staatlicher Akten«, die wegen der breiten Nutzung von Quellen besondere Beachtung verdient. 1999 folgte der Bericht »Die Moderatoren der Runden Tische. Evangelische Kirche und Politik« und 2001 das Buch »Die Evangelische Kirche der Union und die Deutsche Demokratische Republik«, das EKU-Synoden auswertete. Es folgten Biographien: 2005 »Weiß ich den Weg auch nicht« über seine Schwester Annemarie Winter, die 1931–35 Theologie studierte, 1943 Vikarin in einem pommerschen Dorf mit vollem Pfarrdienst wurde und 1945 mit Teilen ihrer Gemeinde nach Sibirien verschleppt wurde, wo sie starb. 2007 schrieb W. über seinen Vorgänger als Propst Siegfried Ringhandt, 2009 über den pommerschen Bischof Karl von Scheven, 2011 über den Pfarrer Friedrich Schauer, »Seelsorger, Bekenner, Christ im Widerstand«. 2012 folgte ein Bericht über die Gemeinde Berlin-Köpenick 1945–1990. So setzt die eigene Biographie eine beachtliche Reihe anderer historisch-biographischer Arbeiten fort, die für die Kirchengeschichte wertvoll sind.
Der Buchtitel und mehrere Äußerungen im Text zeigen, dass W. primär ein Zeugnis als Christ geben will. W. ist für beides zu danken: Für die sachliche Überlieferung wichtiger historischer Ereignisse und für die ganz persönliche Verarbeitung jener Vorgänge.