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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

77-78

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Philipps, Albrecht

Titel/Untertitel:

Diaspora im Münsterland. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung evangelischer Kirchengemeinden im 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel Ochtrups.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2015. 415 S. m. Abb. = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 43. Kart. EUR 29,90. ISBN 978-3-7858-0669-2.

Rezensent:

Dirk Fleischer

Die Erforschung der geschichtlichen Entwicklung von Kirchengemeinden erfreut sich in den letzten Jahrzehnten großer Beliebtheit, wobei es oft die Pfarrer der Gemeinde selbst sind, die diese wichtige Aufarbeitung der Gemeindegeschichte übernehmen. Dies gilt auch für den Ochtrup-Metelener Pfarrer Albrecht Philipps. In seiner lesenswerten Studie Diaspora im Münsterland, die im Sommersemester 2014 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster als Dissertation an­genommen wurde, untersucht er exemplarisch am Beispiel der Gemeinde Ochtrup die Entwicklung evangelischer Gemeinden im tief katholisch geprägten westlichen Münsterland. Dem Vf. geht es – wie beispielsweise auch dem Pfarrer Georg Braumann für die Ochtruper Nachbargemeinde Coesfeld – darum, das evangelische Gemeindeleben in dieser extremen Diaspora-Situation nachzuzeichnen, um so einen Beitrag zur Rekonstruktion der Entwicklungsgeschichte des Protestantismus im Münsterland zu leisten.
Das Werk gliedert sich in neun Kapitel. Im ersten Kapitel reflektiert der Vf. den Begriff Diaspora mit seiner Verwendung im Alten und Neuen Testament sowie in der Reformationszeit und bei Zinzendorf. Erst im 19. und 20. Jh. wurde der Begriff eingehender systematisiert. Dies erfolgte vor allem durch solche Theologen, die selber in der Diaspora lebten und wirkten. Diaspora bezeichnet eine »Minderheit in einer konfessionell andersartigen Mehrheitsumgebung« (79). Zu Recht betont der Vf. in diesem Zusammenhang, dass vor allem die »evangelische Kirche auch vor dem Hintergrund der Kriegserfahrungen des 20. Jh.s den Sprachgebrauch des Militärs für die eigene Profilschärfung benutzt« (80) hat.
Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Katholizismus im Westmünsterland. Das Münsterland war bis 1815 Teil des Fürstbistums Münster. Der Bischof von Münster war sowohl geistliches Oberhaupt der Diözese als auch politischer Landesherr des Territoriums, d. h. er war deutscher Reichsfürst. Aufgrund der engen Anlehnung an Rom wurde Münster oft auch »nordisches Rom« bezeichnet. Bis heute prägt das katholische Denken und das entsprechende Weltbild diese Landschaft entscheidend, d. h. der Ka­tholizismus hat sich über die »Jahrhunderte tief in das Bewusstsein und das Selbstverständnis seiner Bewohner eingewurzelt« (83), obwohl bereits im Zeitalter der Reformation evangelischer Einfluss nachweisbar ist. Eine Minderheit von etwa 15 Prozent der Bevölkerung gehört heute zur evangelischen Kirche. Die meisten der heute existierenden evangelischen Gemeinden sind allerdings erst im 19. Jh. entstanden.
Die Verbindung von geistlicher und politischer Macht wurde im Fürstbistum Münster im 19. Jh. aufgelöst. Durch den Reichsdeputationshauptschluss erhielt Preußen 1803 zunächst einzelne Teile des Fürstbistums. Durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses aus dem Jahre 1815 wurden dann Preußen auch die westlichen Teile des Oberstifts Münster zugeschlagen, so dass die katholische Bevölkerung des Münsterlandes nun Teil des protestantisch ge­prägten Preußens wurde. Die Bevölkerung erwartete durch diese Veränderung der Herrschaft eine Benachteiligung der katholischen Kirche. Mit der durch diese politischen Veränderungen sich ergebenden konfessionellen und bevölkerungspolitischen Lage beschäftigt sich der Vf. im dritten Kapitel. Deutlich ist, dass nach 1815 im Münsterland eine Veränderung der konfessionellen Bevölkerungszusammensetzung durch Wanderungsbewegungen u. a. durch die einsetzende Industrialisierung und durch die preußische Verwaltung beginnt. Evangelische Beamte aus anderen Teilen Preußens kamen ins Münsterland und standen oft am Anfang evangelischer Gemeindegründungen im 19. Jh. Allerdings führte die Bevölkerungsmischung auch zu Konflikten zwischen dem Staat und der katholischen Kirche, wie der Streit um die konfessionelle Mischehe (ab 1825) prägnant verdeutlicht.
Im vierten Kapitel beschreibt der Vf. ausführlich die Gemeindegründungen im Münsterland als Folge von wirtschaftlichen Veränderungen, d. h. vor allem durch die sich entwickelnde Textil-industrie. In erster Linie fanden niederländische Arbeiter so im Müns­terland eine neue Heimat. Die aus verschiedenen deutschen und niederländischen Gegenden und durch unterschiedliche Frömmigkeitsformen geprägten Gemeindeglieder verband eigentlich nur eins: Man war nicht katholisch. Die neuen Gemeinden waren jedoch zahlenmäßig sehr klein – 1905 waren von 8546 Einwohnern Ochtrups 344 Protestanten – und auf Hilfe durch den Staat, die Kirche und das Diasporawerk GAV (Gustav-Adolf-Verein) angewiesen. Eine kurze Geschichte des GAV bietet dann das fünfte Kapitel. Auch die massive finanzielle Unterstützung der Ochtruper Gemeinde, die 1895 durch die Auspfarrung von der Gemeinde Gronau entstanden ist, durch den GAV wird vom Vf. kenntnisreich dargestellt.
Die drei folgenden Kapitel beschäftigen sich mit weiteren Konfessionskonflikten mit der katholischen Kirche wie gemeinsame Nutzung des Friedhofes (1926) oder die Gründung einer evangelischen Schule (1893). Diese Konflikte prägten das Selbstverständnis der Ochtruper Gemeinde. Zu Recht betont der Vf., dass am Ende des 19. Jh.s die Pfarrstelle, die Schule und das Bethaus vor allem dazu dienten, »die Abwanderung der evangelischen Zugezogenen zur katholischen Kirche einzudämmen« (231). Wichtige bauliche Maßnahmen im 20. Jh. waren dann der Bau der Kirche und des Pfarrhauses. Dieser Abschnitt der Studie bietet auch biographische Skizzen der fünf Pfarrer, die in der Ochtruper Gemeinde von 1897 bis 1945 ihren Dienst verrichteten.
Im letzten Kapitel untersucht der Vf. schließlich den tiefen Einschnitt und die weitere Entwicklung der Gemeinde in der Zeit nach 1945, in der der Diasporaprotestantismus im Münsterland erheblich durch den Zuzug von Ostvertriebenen wuchs. Innerhalb weniger Monate stieg die Zahl der Gemeindeglieder in Ochtrup von ca. 500 auf etwa 3000 an. Anschaulich werden die Anstrengungen der Pfarrer beschrieben, die darauf zielten, diesen Zustrom von Menschen ins Gemeindeleben zu integrieren.
Der Vf. beschreibt in seinem Buch kenntnisreich, wie sich aus einem nahezu konfessionell einheitlichen Gebiet eine plurale Gesellschaft entwickelte. Sein Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte des Diasporaprotestantismus im Münsterland.