Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

74-76

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Miliopoulos, Lazaros

Titel/Untertitel:

Das Europaverständnis der christlichen Kirchen im Zuge der Europäisierung: Ein Konvergenzprozess?Theoretische Einordnung und Inhaltsanalyse.

Verlag:

Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 2015. 357 S. = Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, 32. Kart. EUR 46,90. ISBN 978-3-506-77993-9.

Rezensent:

Hans Jürgen Luibl

Das Projekt Europa entwickelt sich, auch oder vielleicht gerade in Krisen. Wie aber sehen die Kirchen in Europa diesen Prozess? Wie verorten sie sich, wie begleiten sie dieses Projekt? Diese Fragen untersucht die vorliegende Arbeit, die auf eine Habilitationsschrift zurückgeht, eingereicht an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn 2014.
Im Wesentlichen sind es zwei Fragen, die aufgenommen werden: Wie sehen Kirchen in ihren jeweiligen theologischen, ekklesiologischen und vor allem ethischen Traditionen das Projekt Europa und wie bringen sie sich institutionell ein? Dabei wird der Untersuchungszeitraum eingegrenzt auf die Zeit von 1993 bis heute, unterteilt in zwei Perioden: 1993 bis 2005 und 2005 bis 2013. Die Entwicklungen im politischen Europa sind damit der Horizont, in dem kirchliche Europaarbeit verortet wird. Zu den Kirchen zählen hier die europaweiten kirchlichen Zusammenschlüsse: die rö­misch-katholische Kirche mit CCEE (Rat der Europäischen Bischofskonferenzen, Consilium Conferentiarum Episcoporum Europae) und ComECE (Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, Commissio Episcopatum Communitatis Europensis), orthodoxe Kirchen mit ihrer Europaarbeit, die KEK (Konferenz Europäischer Kirchen) als Zusammenschluss von evangelischen und orthodoxen Kirchen, die GEKE (Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa. Leuenberger Kirchengemeinschaft) als Gemeinschaft evangelischer Kirchen und die EEA (Europäische Evangelische Allianz). Das entsprechende Europaprofil wird gewonnen aus den offiziellen Texten und Dokumenten dieser Kirchen – zu ihrem besseren Verständnis wird Sekundärliteratur eingearbeitet. Die Methode der Erschließung dieser Texte ist die in Sozial- und Medienwissenschaft geübte Methode der Inhaltsangabe. Dabei werden Texte auf ihre Schlüsselbegriffe hin analysiert, diese fungieren dann wie Koordinaten, in deren Verknüpfung sich dann das jeweilige Profil zeigt. Dadurch ist es möglich, sowohl diachron für die jeweilige Kirchengemeinschaft ein Profil zu be­stimmen wie auch synchron Positionen der Kirchen zu ausgewählten Themen zu vergleichen. Die Leitfrage, die sich damit verbindet, lautet, ob es im politischen Prozess der Europäisierung eine Konvergenz der Kirchen gib.
Dieses Forschungssetting ist von Lazaros Miliopoulos gut ge­wählt, um die Fülle des Materials sinnvoll zu ordnen. Zum einen ist es zielführend, den Untersuchungszeitraum einzugrenzen und ihn mit 1993 beginnen zu lassen: Das sind die Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und damit der Beginn einer gesamteuropäischen politischen Dimension. Mit neuen politischen Optionen wurde auch die Frage nach der Identität Europas neu virulent – eine Kernfrage, die auch in der Arbeit breiten Raum bekommt, weil vor allem hier Kirchen speziell herausgefordert sind (»Identität Europas, identitätspolitische Bedeutung des Christentums und die Rolle der Kirchen«, 105–158). Ein sachlicher Fehler hat sich hier eingeschlichen. Die für die Argumentation wichtige Metapher »Europa eine Seele geben« geht nicht, wie behauptet auf Jacques Santer zurück (nach Anmerkung 121 im Jahr 1999 zu verorten), sondern auf eine Rede, die Jacques Delors 1992 vor der KEK gehalten ha t– d. h. sie ist von Anfang an verbunden mit dem Prozess der Neuorientierung Europas nach der Wende, sollte nach europapolitischen Vorstellungen eingehen in die »große Debatte um Europa«, ist aber mit ihr gescheitert. Dass mit 2005 eine neue Periode im Europadiskurs markiert wird, ist ebenso sinnvoll, da nach den Aufbrüchen und Hoffnungen in den 90er Jahren trotz realpolitischer Europaentwicklung (Vertiefung nach innen, Erweiterung nach außen) eine neue Europaskepsis zu erkennen ist (Ukraine-, Finanz- und Migrationskrise).
Auch die Auswahl der Keywords oder Beobachtungskriterien für die kirchlichen Europadiskurse ist weiterführend. Nach der Methode der Inhaltsangabe werden die Keywords und damit die Systematik des Diskurses aus den Texten selber gewonnen. Das christliche Europaverständnis wird in den Horizonten ›Kultur, Ethik und praktische Philosophie, Identitätspolitik, Integrationspolitik und Spiritualität‹ mit der Schlussfrage eines christlichen Europas ausgelegt. Daran schließen sich drei Handlungsfelder an: die Positionierung der Kirchen zu einem säkularen und pluralen Europa, zu religionsrechtlichen Fragen sowie zu konkreten politischen Herausforderungen. Deutlich wird dabei, dass alle Kirchen das politische Projekt würdigen, sie sich darin verorten können und sich in diesen Prozess verantwortlich einbringen. Deutlich werden aber auch die Unterschiede. Während auf protestantischer Seite es ein Ja zum säkularen Projekt Europa gibt und die Kritik daran sich an politisch-sozialen Fehlentwicklungen und religiös überhöhten Europabildern entzündet, gibt es auf römisch-katholischer wie orthodoxer Seite ein Ja zum säkular-pluralen Projekt, das dann gelingen kann, wenn die religiöse Dimension, konkret die Tradition des abendländischen Christentums als integrierende Kraft eingebracht wird. Erkennbar wurde dies im Diskurs um die Frage nach einem Gottesbezug in der Präambel einer europäischen Verfassung. In konkreten Fragestellungen, wie etwa bei religionsrechtlichen Themen, gibt es einen großen Konsens der Kirchen, die nationalen und kulturell verankerten Religionsrechte zu wahren, um Europas Identität zu bewahren und so eine Basis zu schaffen für eine Weiterentwicklung Europas, auch durch ein europäisches Religionsrecht. Hier sind eher die Kirchen der EEA (Europäische Evangelischen Allianz) weniger am Schutz der institutionalisierten Kirche als der individuellen Religionsfreiheit orientiert.
Differenziert werden die Stellungnahmen der orthodoxen Kirchen dargestellt. Hier zeigt sich, dass die Kirchen nach dem Ende der Sowjetunion erst langsam am europäischen Integrationsprozess partizipieren, damit eine größere Distanz zum politischen Projekt haben, die wiederum verknüpft ist mit einer Kritik an einem religionsfernen Europa. Dass die Kirchen in der EU eine Rolle spielen wollen, ist erkennbar – welche Rolle das ist, ist aber offen. Das oszilliert zwischen der Rolle des Religions-Agenten in der europäischen Zivilgesellschaft auf der einen und einer Institution sui generis, die auf Augenhöhe mit der Politik, aber auf eigenständige Weise Europas Zukunft verantwortet.
Eine der spannenden Fragen in diesem Buch und in den Do-kumenten der Kirchen ist jene nach der religiösen Dimension Europas. Auf der einen Seite wird seitens der Kirchen diese religiöse Dimension – ob ethisch oder spirituell vermittelt – als Teil der Identität Europas und Element des Gelingens europäischer Inte­gration starkgemacht. Umgekehrt gibt es eine Halb-Distanz des politischen Europas zur Religion. Zur europäischen Identität scheint Europa die Kirchen nicht zu brauchen, aber als herausragende zivilgesellschaftliche Akteure im gesellschafts-politischen Diskurs scheinen sie durchaus willkommen, wie es in Artikel 7 des Lissabonvertrags festgehalten ist (die Union achtet den Status der Kirchen und sucht regelmäßige Gespräche). An manchen Stellen im Buch vermittelt M. zudem, dass Europa sich vom Christentum zunehmend distanziert und stärker anti-kirchlich oder auch anti-religiös agiert (etwa im Blick auf den gescheiterten Gottesbezug in der Verfassung oder der Ablehnung von Rocco Buttiglione als möglichen Vizepräsidenten der Europäischen Kommission und Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit wegen seiner religiös begründeten Ansichten über Homosexuelle und zur Stellung der Frau in der Gesellschaft). »Die europäischen Gesellschaften scheinen zunehmend kirchen- und christenheitsvergessen zu sein.« (308) – zum Schaden der Identität und Integration Europas, so M. Ob aber Europa diese religiöse Identität wirklich braucht oder ob Religionen den Krisenprozess Europas nicht noch verschärfen und ein Abschied von religiösen Sinnstiftungen im politischen Projekt nicht notwendig wäre, ob es gar aus theologischen Gründen sinnvoll ist, auf Halb-Distanz zu gehen, das müsste sich erst noch erweisen.
Ob Kirchen im Prozess der Europäisierung stärker zusammengefunden haben, das wird mit Blick auf die verstärkte professionelle und institutionelle Europaarbeit, den Themenkanon und gemeinsame Perspektiven vorsichtig bejaht. Ob das gemeinsame Agieren stärker geworden ist, kann im Blick auf den Zusammenhalt der KEK allerdings auch bestritten werden. Und offen bleibt die Frage, ob nicht – vom Evangelium her und den politischen Herausforderungen – noch mehr möglich und machbar gewesen wäre in den letzten 20 Jahren. Das aber geht über den Leistungshorizont einer Inhaltsanalyse hinaus. Das Buch bietet in der vorliegenden Form eine hervorragende Basis für diese Fragen und die Weiter-arbeit.