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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

70-72

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Heid, Stefan, u. Michael Matheus [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Orte der Zuflucht und personeller Netzwerke. Der Campo Santo Teutonico und der Vatikan 1933–1955.

Verlag:

Freiburg i. Br. u. a.: Verlag Herder 2014. 592 S. m. Abb. = Römische Quartalsschrift für Christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Supplementbd. 63. Geb. EUR 58,00. ISBN 978-3-451-30930-4.

Rezensent:

Michael Meyer-Blanck

Die Stadt Rom war in den Jahren des Zweiten Weltkrieges voll von Menschen verschiedenster gesellschaftlicher und politischer Gruppen – denn »alle glaubten, allein die Tatsache, dass der Papst dort residierte, werde eine Bombardierung der Stadt Rom verhindern« (Michael Matheus, 17). Damit wird der Zeitraum der NS- und der Nachkriegszeit zu einem Exemplum, anhand dessen »Phänomene des Wissens- und Wissenschaftstransfers« transparent werden können (20). Das wird etwa an der Studie von Norbert M. Borengässer deutlich, der schildert, wie die Konkurrenz der beiden Dölger-Schüler Theodor Klauser und Johannes Quasten langfristig »ein engmaschiges Wissenschaftsnetz über den Atlantik hinweg verhindert hat« (574).
Der in jeder Hinsicht gewichtige Band geht auf eine internationale Tagung zurück, die im März 2013 zum 125. Jahrestag der Gründung des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft an deren Sitz am Campo Santo Teutonico in Rom stattfand. Der Band ist in drei Sektionen gegliedert. In der ersten geht es um die Zuflucht von Wissenschaftlern in Italien und im Campo Santo im Vatikan (25–196), in der zweiten um die Diplomaten im Vatikan Diego von Bergen und Ernst von Weizsäcker sowie um Ludwig Kaas (199–299) und in der dritten um den wissenschaftlichen Neuanfang in Rom nach 1945 (303–574).
Erstens handelt es sich bei dem Buch um eine personalisierte und auf den Ort Rom konzentrierte Fachgeschichte katholischer Kirchengeschichtsschreibung in der Mitte des 20. Jh.s und darüber hinaus. Ausführliche Artikel finden sich so zu bekannten Gelehrten wie Hubert Jedin (52–75, Günther Wassilowsky), Karl August Fink (457–459, Dominik Burkard) und zu den Schülern von Franz Joseph Dölger (560–574, Norbert M. Borengässer). Zudem ist dem Artikel von D. Burkard ein Anhang mit fast 100 ausführlichen Biogrammen beigegeben (527–559); diese Seiten sind bei der Lektüre des gesamten Bandes immer wieder hilfreich, auch wenn einige wenige der vorkommenden Personen in dem Verzeichnis fehlen. Besonders eindrücklich sind der Artikel über den allzu diplomatischen deutschen Botschafter Diego von Bergen (Gregor Wand, 199–221) sowie die beiden Artikel über Ernst von Weizsäcker zwischen 1943 und 1945 (Anselm Doering-Manteuffel, 222–237) und zwischen 1943 und 1946 (Karl-Joseph Hummel, 238–268). Weizsäckers Verhalten ist exemplarisch für eine ganze Schicht des deutschen Bürgertums in der NS-Zeit: Er war ein Mensch, »der klare ethische Maßstäbe hatte, aber weder die Kraft aufbrachte, noch über den persönlichen Mut verfügte, entschieden zu diesen Maßstäben zu stehen.« (222) Doering-Manteuffel zeichnet so das Bild »eines Menschen mit bürgerlichen und rechtsstaatlichen Wertmaßstäben« – und zu­gleich das Bild »eines persönlich ehrgeizigen Herrn ohne staatsbürgerliche Courage« (ebd.). Wahrscheinlich ist, dass Ludwig Kaas, der ehemalige Vorsitzende der Zentrumspartei und seit 1933 in der Rolle eines »im Vatikan isolierten und privilegierten Emigranten« (276), an der Enzyklika Pius’ XII. »Mit brennender Sorge« von 1937 mitgearbeitet hat ( Rudolf Morsey, 269–299).
Darüber hinaus bietet der Band zweitens ein konzentriertes Stück Geschichte der deutschen Wissenschaftsorganisation in Rom. So wird das Römische Institut der Görres-Gesellschaft beim Campo Santo von dem gegenwärtigen Direktor des Instituts ausführlich geschildert (303–356, Stefan Heid). In diesen Ausführungen wird deutlich, wie sehr Kurs und Geschick des Instituts von dem langjährigen (1931–1954) Rektor Hermann Maria Stoeckle abhängig waren – einem Mann, der zwar in der Faschisten- und Kriegszeit einigermaßen geschickt zu taktieren verstand, aber selbst »nach seiner Promotion keine Zeile mehr« publizierte (327). War das Institut schon 1937 durch nationalsozialistische Schikanen in Gefahr gewesen (334), so wurde die Görres-Gesellschaft selbst im Juni 1941 tatsächlich durch einen Erlass von Reichsinnenminister Frick zwangsaufgelöst (337 f.) und erst 1949 wiedergegründet. Auch der Kampf um die deutschen wissenschaftlichen Institute in Italien zwischen 1945 und 1953 gehört in diesen Zusammenhang (357–386, Michael Matheus). Erst im Februar 1953 kamen die Verhandlungen zwischen Deutschland und Italien (u. a. nach einer Romreise Konrad Adenauers) zu einem glücklichen Ende, so dass neben dem Institut der Görres-Gesellschaft auch das Deutsche Historische Institut (DHI), das Deutsche Archäologische Institut und die Bibliotheca Hertziana nach einem Notenwechsel zwischen Alcide De Gasperi und Adenauer an Deutschland zurückgegeben werden konnten (385). Zu erinnern ist an dieser Stelle an die Einleitung des Bandes von Matheus, in der geschildert wird, wie De Gasperi selbst als Gegner des faschistischen Systems in Italien nach einer 16-monatigen Haft seit 1929 Zuflucht als Mitarbeiter in der Biblioteca Apostolica Vaticana fand (und dort Kontakte mit vielen in dem Band behandelten Gelehrten pflegte).
Zurück zu den deutschen Instituten in Rom: Der Vatikan hatte zwischenzeitlich (1947–1953) die Bibliothek des DHI aufgenommen, weil diese – nach dem seinerzeit von Hitler befohlenen Ab­transport – in Rom sonst keinen Aufstellungsplatz mehr hatte (363). Die Frage der deutschen Institute in Rom wurde ab 1949 zum Gradmesser für die Bereitschaft, Deutschland als gleichberechtigten Partner innerhalb der westlichen Bündnisse anzuerkennen (384 f.). Das besondere Verdienst der beiden Brüder Giovanni Kardinal Mercati (1866–1957) und Angelo Mercati (1870–1955) wird dabei eigens in einem Beitrag gewürdigt (387–417, Paolo Vian). Hier wird auch eindrücklich die Hilfe Giovanni Mercatis für den in Rom arbeits- und mittellosen Erik Peterson geschildert, der 1939 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Vatikanbibliothek angestellt wurde (399). Der Name dieses bedeutenden Gelehrten sollte in der deutschen Wissenschaftsgeschichte bekannt bleiben oder werden, denn Kardinal Mercati war es, der 1938/39 als »Bibliothekar und Archivar der Heiligen Römischen Kirche« einen Appell an amerikanische Universitäten gerichtet hatte, jüdischstämmige deutsche Wissenschaftler aufzunehmen (400–403). In diese Abteilung gehören auch die Artikel zu Hermann Hoberg ( Sergio Pagano, 418–428), zu dem Direktor der Vatikanischen Museen Deoclecio Redig De Campos (Arnold Nesselrath, 429–448) und zu dem Kirchenhistoriker Friedrich Kempf (Klaus Schatz, 449–457).
Drittens schildert der Band in mehreren Einzelstudien die Rolle des Campo Santo als Zufluchtsort für »Flüchtlinge, Juden, Auslandsdeutsche« in der NS-Zeit (Christof Dipper, 25–51). Geradezu spannend zu lesen ist dabei der detailreiche Artikel über den Campo Santo und das deutsche Priesterkolleg während des Zweiten Weltkrieges (Johan Ichx und Stefan Heid, 137–196). Im Gegensatz zu Santa Maria dell’Anima war der Campo Santo weit weniger von Krieg und NS-Schikanen betroffen (147) und mindestens 25 Personen, die nicht zum regulären Personal bzw. zu den offiziellen Mitgliedern des Kollegs und der Schwesterngemeinschaft gehörten, konnte 1943/44 Zuflucht gewährt werden (153); Rektor Stoeckle sah die deutsche Besatzung Roms als ein illegitimes Regime an (167). Besonders lebendig gerät dabei die Schilderung des Wirkens des irischen Monsignore Hugh O’Flaherty (173–180). In diesem Teil des Buches finden sich auch weitere personenbezogene Skizzen. Be­handelt werden der Kirchenrechtler Stephan Kuttner ( Ludwig Schmugge, 76–93), die Philosophin und Wissenschaftshistorikerin Anneliese Maier (Annette Vogt, 94–122) und die Archäologin Hermine Speier (Paul Zanker, 123–136).
Die ungeheuren Mengen an Informationen und Einsichten des Bandes können nur kurz angedeutet sein. Den Autoren und Herausgebern ist für dieses Buch, das als Nachschlagewerk und als spannendes Lesebuch zugleich dienen kann, nur zu danken.