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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

53-56

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Malherbe, Abraham J.

Titel/Untertitel:

Light from the Gentiles: Hellenistic Philosophy and Early Christianity. Collected Essays, 1959–2012. Ed. by C. R. Holladay, J. T. Fitzgerald, J. W. Thompson, and G. E. Sterling. 2 Vols.

Verlag:

Leiden u. a.: Brill 2013. Vol. 1: XL, 596 S. Vol. 2: XVI, 370 S. = Supplements to Novum Testamentum, 150. Geb. EUR 254,00. ISBN 978-90-04-25339-1.

Rezensent:

Karl-Wilhelm Niebuhr

Abraham J. Malherbe (1930–2012) war einer der bedeutendsten aus der Generation von Gelehrten, die die neutestamentliche Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s und bis in das 21. Jh. hinein geprägt haben. Vergleichbar mit Martin Hengel in der deutschsprachigen Exegese war M. in der englischsprachigen mit seinem eigenständigen, konsequent verfolgten Forschungsansatz überaus anregend für die neutestamentliche Forschung weltweit. Hatte Hengel mit seinen Studien zu »Judentum und Hellenismus« die religions- und kulturgeschichtliche Einordnung der neutestamentlichen Schriften auf eine neue Basis gestellt, so führten M.s Untersuchungen zur griechisch-römischen Philosophie zu vergleichbar grundlegenden Neuorientierungen, an denen heute kein Neutestamentler vorbeigehen kann. Hengel wie M. betrieben ihre exegetische Arbeit im Kontext der internationalen Forschung ohne ideologische Scheuklappen. Die Publikationen beider Gelehrter zeichnen sich aus durch immense Kenntnis antiker Quellen und ihre konsequente Heranziehung bei der Interpretation der neutes­tamentlichen Texte. Als philologisch, historisch und religionsgeschichtlich arbeitende Exegeten waren beide zugleich auch Theologen und stellten sich in den Dienst der Auslegung des Neuen Testaments für Menschen der Gegenwart, in den Kirchen wie in der säkularen Gesellschaft.
Promoviert wurde der in Südafrika geborene M. 1963 in Harvard bei Arthur Darby Nock mit einer ungedruckt gebliebenen Arbeit über den christlichen Apologeten Athenagoras (fünf Studien zu Athenagoras aus den 60er Jahren sind unter der Rubrik »Patristica« in den zweiten Band der hier zu besprechenden Aufsatzsammlung aufgenommen worden, zusammen mit einigen weiteren zur frühchristlichen Literatur des 2. Jh.s). Seit 1970 wirkte er an der Yale Divinity School (ab 1981 als Buckingham Professor) bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1994. Sein Hauptarbeitsfeld lag schon früh bei den hellenistisch-römischen Moralphilosophen. Eine Studienausgabe der sogenannten »Kynikerbriefe« brachte er 1977 heraus (The Cynic Epistles, Missoula, SBLSBS 12), eine weitere zur antiken Epistolographie 1988 (Ancient Epistolary Theorists, Atlanta, SBLSBS 19). Ein für den Studienbetrieb bestimmtes Buch zur antiken Mo­ralphilosophie erschien 1986 (Moral Exhortation, A Greco-Roman Sourcebook, Philadelphia), ein monographischer Überblicksartikel zu demselben Thema mit vollem wissenschaftlichen Apparat 1992 (Hellenistic Moralists and the New Testament, ANRW II 26,1, 267–333; im vorliegenden Band: 675–749). Elf Aufsätze zu diesem Themenbereich wurden in dem Band »Paul and the Popular Philosophers« (Minneapolis 1989) gesammelt publiziert; die vorliegende Sammlung bringt sie erneut unter verschiedene Rubriken verteilt. Die Rubrik »Philosophica« im zweiten Band bietet darüber hinaus noch drei weitere Studien zur hellenistisch-römischen Popularphilosophie (darunter die englische Übersetzung des Artikels »Herakles« aus RAC 14, 1988, 559–583 [im vorliegenden Band: 651–674]).
Dass man auch zu kleinen Schriften große Kommentare schreiben kann, hat M. mit seinem Kommentar zu den Thessalonicherbriefen für die Reihe »The Anchor Bible« bewiesen (The Letters to the Thessalonians, AncB 32B, New York u. a. 2000; eine ausführliche Rezension dazu schrieb für diese Zeitschrift Traugott Holtz: ThLZ 127 [2002], 176–179). Zwei Grundzüge kennzeichnen seine Textauslegung und heben sie markant aus der üblichen Kommentierung von Paulusbriefen heraus: Konsequent stellt er die Briefaussagen in den Kontext der antiken Geisteswelt, wie sie zur Zeit des Paulus besonders in Gestalt der kynischen, stoischen oder (›mittel‹-)platonischen Popularphilosophie lebendig war. Als zentrales Anliegen des Apostels gegenüber seiner noch jungen Gemeinde arbeitet M. die ›seelsorgerliche‹ Bemühung um die Adressaten heraus. Beides zusammen, die Rezeption von Formen, Topoi und Argumenten der Popularphilosophie und ihre Indienstnahme zur seelsorgerlichen Ausrichtung des Briefes auf die Herausforderungen und Nöte der Adressatengemeinde, verleiht den Thessalonicherbriefen ihre unverwechselbare Eigenart (übrigens hielt M. mit guten Gründen an der Echtheit des 2Thess fest und hat diese lange Zeit für geradezu abwegig gehaltene Annahme für die Fachexegese wieder diskutabel gemacht).
In die vorliegende Sammlung wurden acht Aufsätze zu den Thessalonicherbriefen aufgenommen, vorwiegend aus den 70er bis 90er Jahren, was von der langen, überaus gründlichen Vorbereitung des Kommentars zeugt (hinzu kommen in der Rubrik »Neotestamentica«, abgesehen von den gleich zu erwähnenden Aufsätzen zu den Pastoralbriefen, sechs weitere Paulus-Studien und einige wenige zum lukanischen Werk). Der letzte zu Lebzeiten M.s erschienene Aufsatz wendet sich noch einmal der Paränese der Thessalonicherbriefe zu (Ethics in Context: The Thessalonians and Their Neighbors, 575–596 [RestQ 54, 2012, 201–218]). Bemerkenswert souverän wertet M. auch in dieser Arbeit noch die jüngste Spe-zialforschung zum Thema aus. Wie nur wenige englischsprachige Neu­testamentler hat er sein Leben lang vor allem deutschspra-chige, aber auch französische, italienische oder niederländische Sekundärliteratur in großem Umfang herangezogen.
Der zweite Schwerpunkt im Werk M.s waren die Pastoralbriefe. Für die Reihe »Hermeneia« wollte er einen Kommentar zu ihnen schreiben, der nun wohl nicht mehr erscheinen wird. Auch diesen Kommentar hatte er aber schon mit zahlreichen Einzelstudien vorbereitet, die über einen längeren Zeitraum, vor allem in den letzten zehn Jahren seines Lebens, erschienen sind. Insgesamt zehn Aufsätze dazu sind in die vorliegende Sammlung aufgenommen worden. Bisweilen bieten sie schon so etwas wie einen Kommentar in Fragmenten, wenn Einzelabschnitte jeweils zunächst in ihrem brieflichen Zusammenhang und ihrer Textstruktur erörtert werden und anschließend in ihrem religions-, sozial- oder kulturgeschichtlichen Kontext. Andere Studien gehen an Einzelstellen in die Tiefe und erörtern philologische oder theologische Aspekte in der ganzen Breite von Interpretationsmöglichkeiten. Auch in den Studien zu den Pastoralbriefen erweist sich M. durchweg vertraut mit den wichtigsten Positionen der Auslegungsgeschichte und mit den jeweils aktuellsten Ergebnissen der internationalen Spezialforschung, findet darin aber immer wieder auch seinen ganz eigenen Weg der Textinterpretation.
Es ist unmöglich, den Reichtum der nunmehr gesammelt vorliegenden Studien M.s hier angemessen darzustellen. Sein methodischer Ansatz, vor allen genealogischen Herleitungen einzelner neutestamentlicher Gedanken oder Formulierungen zunächst einmal die antiken Quellen je für sich sprechen zu lassen, verdient volle Unterstützung: »It is far more realistic to view Hellenistic Jewish and Christian literature vis-à-vis Hellenistic philosophy in terms of analogy rather than genealogy.« (464) Das führt zwangsläufig dazu, an die Stelle vorschneller Ableitungen die Mühen sorgfältig differenzierender Textanalysen zu rücken. Mit feiner Ironie zitiert M. gelegentlich »Neutestamentler« (als deutsches Fremdwort im englischen Text), die mit Vorliebe, aber ohne Textnachweise, von ›der kynisch-stoischen Diatribe‹ sprechen, und stellt ihnen die sorgfältig erhobenen Differenzen zwischen Stoikern und Kynikern, und unter Letzteren noch einmal zwischen solchen der strengeren und der milderen Richtung, entgegen (meisterhaft etwa in dem Aufsatz »Self-Definition among the Cynics« [1982], 635–650, oder auch in der ausführlichen Studie »Godliness, Self-Sufficiency, Greed, and the Enjoyment of Wealth: 1 Timothy 6:3–19« [2010/11], 507–557, im Ab­schnitt zur αὐτάρκεια in 1Tim 6,6 [522–529]). Gerade seine umfassende und detaillierte Kenntnis der hellenistisch-römischen Mo­ralphilosophie in ihrer Vielfalt von Ausprägungen, Intentionen und Zielen ermöglichte es M., neben aller Verwandtschaft zu Paulus auch das Besondere zu erkennen und herauszustellen, was die frühe christliche Bewegung ganz eigene Denkwege gehen ließ. Es lag zuallererst auf dem Gebiet der Theologie und der mit ihr zu­sammenhängenden Eschatologie und Soteriologie, was freilich dann auch unverkennbare Auswirkungen auf die Ethik hatte (vgl., nur als Beispiel, sein Urteil im o. g. Aufsatz »Ethics in Context …«: »Paul does not present himself, however, as an authoritative teach­er, but as a member of a fellowship of brethren whose Father is the Creator, who brought the church into existence.« [583]).
Sehr sympathisch – und in der Rückschau nach seinem plötz-lichen Tod im Jahr 2012 geradezu bewegend – schildert M. im letzten Beitrag der vorliegenden Sammlung unter der Überschrift »On the Writing of Commentaries« seinen akademischen Werdegang und die inneren Beweggründe seiner theologischen Arbeit. Die Herausgeber, allesamt seine Schüler, haben die Sammlung noch weitgehend zu seinen Lebzeiten und mit seiner Unterstützung erstellt (ausführlich geschildert im Vorwort der Herausgeber [xix–xxiv] und in der Introduction M.s [1–8]). Alle Aufsätze wurden unter Verantwortung der Herausgeber technisch überarbeitet, bibliographisch und hinsichtlich der Quellenbelege überprüft und gelegentlich ergänzt sowie von M. (bis auf drei) in ihrer Endfassung bestätigt. Sehr umfangreiche Indizes (Modern Authors, Names and Subjects, Ancient Sources, Greek Words, Latin Words) be- und erschließen die Sammlung und stellen so das Werk des großen Gelehrten in bestens aufgearbeiteter Gestalt der künftigen Forschung zur Verfügung.