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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

896–898

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Bail, Ulrike

Titel/Untertitel:

Gegen das Schweigen klagen. Eine intertextuelle Studie zu den Klagepsalmen Ps 6 und Ps 55 und der Erzählung von der Vergewaltigung Tamars.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/ Gütersloher Verlagshaus 1998. 246 S. 8. Kart. DM 48,-. ISBN 3-579-00187-6.

Rezensent:

Jutta Krispenz

"Lesen vom Rand aus" (213) - unter diese Überschrift stellt Ulrike Bail die abschließende Zusammenfassung ihrer Bochumer Dissertation. Sie könnte als Überschrift über vielen exegetischen Arbeiten aus feministisch-theologischer Feder stehen: Sie lesen vom Rand aus in dem Sinne, daß ihre Leseweise von der des männlich dominierten exegetischen "mainstream" unterschieden ist, von diesem gelegentlich kritisiert, häufiger aber ignoriert wird. Sie lesen aber auch in dem Sinne vom Rand aus, daß sie Methoden, die auf Texte in anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen angewandt werden, in die Exegese hereinholen und dabei die Methoden wie auch die biblische Exegese verändern.

B. verwendet die Methode intertextueller Ausleuchtung von Texten, die im literaturwissenschaftlichen Zusammenhang in ähnlicher Funktion verwendet wird wie die Traditionsgeschichte im traditionellen Methodenkanon: Wenn z. B. Werke I. Bachmanns und P. Celans intertextuell aufeinander bezogen werden, dann hat das seinen Rückhalt in einer biographisch belegten nahen Beziehung der Autoren zueinander, der dort feststellbare Dialog ist mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von den Autoren gewollt und Teil der intendierten Aussage der Texte.

Eine vergleichbare Situation wird man bei alttestamentlichen Texten schwerlich je antreffen. Darum wird die Methode dergestalt verändert, daß nun nicht mehr historisch nachgewiesene Beziehungen in historisch korrekter Richtung verwendet werden, sondern bloß mögliche inhaltliche Beziehungen zwischen Texten gebraucht werden, um den Texten weitere Bedeutungsmöglichkeiten abzugewinnen. Die Frage nach der historischen Wahrscheinlichkeit spielt dafür ebensowenig eine Rolle wie die nach der kulturellen Möglichkeit. So kann B. die Geschichte von der Vergewaltigung Tamars (2Sam 13,1-22) ebenso verwenden, um Elemente für das Verstehen der Gefühlssituation vergewaltigter Frauen zu gewinnen, wie die Geschichte der Philomele und Untersuchungen über Erfahrungen vergewaltigter Frauen aus moderner Zeit. Alle diese Texte und Erfahrungen benötigt B., um herauszuarbeiten, was ihrer Ansicht nach die emotionale Situation nach der Erfahrung sexueller Gewalt prägt.

Die beiden Psalmen 6 und 55 will B. so lesen, daß sie als Texte verstehbar werden, die von Frauen gebetet werden konnten und gebetet werden können. Der Bezug auf weibliche Lebenswirklichkeit, für den B.s Ausführungen die "Intertexte" benötigen, bringt eine andere Richtung feministischer Exegese ins Spiel, die "gender studies", die ebenfalls in etwas anderer Form in den feministischen Literaturwissenschaften moderner Sprachen eine Rolle spielen. Dort werden, ausgehend von Texten, die männlichen bzw. weiblichen Autoren klar zugeordnet sind, kulturell bedingte Stereotypen der Geschlechterrollen erhoben. "Geschlecht", oder dann bessser "gender", "genus", wird so verstehbar als kulturell geformte Größe, abseits biologischer Determinanten. In der feministisch-theologischen Diskussion wurde die Fragerichtung umgedreht: Aus den in den Texten sich spiegelnden Wirklichkeitswahrnehmungen wird auf das "gender" der Autoren der Texte geschlossen. Diese durch das Buch "On Gendering Texts" von A. Brenner und F. Van Dijk-Hemmes in die feministische Exegese eingeführte Variante der gender studies setzt eine weitreichende Konstanz in der Modellierung der "gender" in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten voraus. Wie fragil diese Voraussetzung ist, zeigt das Buch von B. an einigen Stellen.

B. nimmt recht einseitig für die Rolle des Opfers sexueller Gewalt das gender "weiblich" an. Texte wie Gen 19 und Ri 19 deuten da auf einen weiteren und differenzierteren Horizont der alttestamentlichen Schriften: In beiden Texten nimmt die Geschichte ihren Anfang damit, daß Männern eine Vergewaltigung droht, auch wenn die "Herren der Handlung" jeweils rasch auf weibliche Ersatzopfer ausweichen. Die Einseitigkeit führt B.s Darstellung zu einem Schwarzweißbild, in dem Frauen und nur Frauen zu Opfern sexueller Gewalt werden. Leider weigert B. sich, "Vergewaltigung", den zentralen Begriff ihrer Arbeit, einzugrenzen (so z. B. 21), so daß letztlich alles, was sprachlos macht, als Vergewaltigung gelten kann (vgl. den Abschnitt über "Sprach- und Gewaltmacht in den Klagepsalmen der Einzelnen", 31 ff.).

Da B. den Bereich der Geschlechterrolle, mit dem sie sich beschäftigt, in gewisser Weise als universell gültig voraussetzt - gefordertes Schweigen und Einengung des zur Verfügung stehenden Raumes sind nach B. bei Philomele wie bei Tamar und Frauen unserer Zeit geläufige Folgen sexueller Gewalt - scheint ihr auf der anderen Seite zu entgehen, daß sie Tamar keine andere Reaktion einräumt als diejenige, die ihr männlicherseits und konventionell zugestanden wird: die Klage, wie sie in den individuellen Klagepsalmen überliefert ist.

Hier beginnen die beiden Ansätze B.s - Intertextualität und gender studies - auf eigenartige Weise zusammen und gegeneinander zu wirken. Klagepsalmen können nur auf dem Umweg über Intertexte auf bestimmte Situationen bezogen werden. Daß sie darauf überhaupt bezogen werden sollen, verdankt sich aber allein dem Interesse an der Leserin: Für sie, für ihre Situation soll der Text lesbar gemacht werden. Aber wozu eigentlich? Warum soll eine Frau unserer Tage, der sexuelle Gewalt angetan wurde, justament Psalmen lesen, die ihr von exegetischer Seite erst aufbereitet werden müssen, um in ihre Situation zu passen, und die ihr darüber hinaus ein Verhalten nahelegen, das doch verdächtig nahe an den Erwartungen der von männlichen Bedürfnissen dominierten gesellschaftlichen Normen liegt? Eine Frau soll auch in extremen Situationen still und friedlich mit sich selbst ins Reine kommen, keine Unflätigkeiten, keine Sachbeschädigung, statt dessen Psalmen lesen - warum nicht Valerie Solanas’ "Manifest zur Vernichtung der Männer"?

Zwischen zwei Interessen - dem der Frauen nach Beistand in schlimmen Zeiten und dem kirchlich-theologischen nach Verkündigung und Verbreitung biblischer Texte - kann B. am Ende den Leserinnen, auf deren Seite sie sich mit der Wahl intertextueller Leseweise gestellt hat und für die sie den Text als eigensinnige Größe preisgibt, auch keine Perspektive bieten. Das liegt wohl an den eben doch unterschiedlichen Konzepten des weiblichen "gender" im AT und in unserer Gesellschaft (B. räumt das auf S. 21 auch ein, zieht aber keine Konsequenzen daraus).

Eingebettet in diese thematische Auseinandersetzung allerdings sind Textexegesen, die es wert sind, zur Kenntnis genommen zu werden. B.s Buch zielt auf die Psalmen 6 und 55, behandelt daneben aber auch noch folgende Texte: Ps 10; 12; 69,2-5; 31,14 f. B. zeigt, wie auf der semantischen Ebene Bedeutungsgeflechte aufgebaut werden. Sie beobachtet, wie in den Texten Raumkonzepte entwickelt und verändert werden, wie die Zeitstruktur zum Ausdruck des Gefühls der Bedrängnis eingesetzt wird und genau dort, wo B. am Text beobachtet, empfindet die Rezn. das Buch als besonders lesenswert.

Die beiden von B. verwendeten Zugangsweisen der Intertextualität und der gender studies werfen, so wie sie hier verwendet sind, Probleme auf, könnten aber grundsätzlich auch Möglichkeiten zu neuen Fragestellungen und Sichtweisen eröffnen und wären es wohl wert, auf breiterer Basis diskutiert zu werden. In diesem Sinne sei die Arbeit Ulrike Bails zur Lektüre empfohlen.