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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

39-41

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Klein, Anja

Titel/Untertitel:

Geschichte und Gebet. Die Rezeption der biblischen Geschichte in den Psalmen des Alten Testaments.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XII, 435 S. = Forschungen zum Alten Testament, 94. Lw. EUR 114,00. ISBN 978-3-16-153241-2.

Rezensent:

Markus Witte

Die für den Druck leicht überarbeitete Göttinger Habilitationsschrift von Anja Klein bietet eine detaillierte literar- und redak-tionsgeschichtliche Analyse der sogenannten Geschichtspsalmen(Ps 78.114.105–106.135–136). Mit der Thematisierung der Reflexion und Interpretation von Geschichte in den Psalmen steht die vorgelegte Studie unmittelbar neben den in jüngerer Zeit erschienenen Monographien von Judith Gärtner (Die Geschichtspsalmen, Tü­bingen 2012), Sophie Ramond (Les leçons et les énigmes du passé. Une exégèse intra-biblique des psaumes historiques, Berli n/ Boston 2014) und Marco Pavan (»He remembered that they were but flesh, a breath that passes and does not return« [Ps 78,39]. The Theme of Memory and Forgetting in the Third Book of the Psalter [Pss 73–89], Frankfurt a. M. 2014). Wie diese arbeitet K. die besondere Pragmatik der poetischen Verarbeitung von Pentateuchstoffen heraus. Das besondere Profil gewinnt die Arbeit K.s durch ihren dezidiert literargeschichtlichen Zugang. Mittels dessen versucht sie erstens das Verhältnis der Geschichtspsalmen zur erzählenden Überlieferung, zweitens den redaktionsgeschichtlichen Ort der behandelten Psalmen im Psalter sowie drittens die Funktion der Geschichtsrezeption in den Psalmen und ihre Bedeutung für die Religions- und Theologiegeschichte des antiken Judentums zu bestimmen. So skizziert K. das Bild einer sukzessiven Aufnahme von Pentateucherzählungen in den Psalmen, die aus einem schriftgelehrten Milieu zur Zeit des Zweiten Tempels stamme und im Kontext einer Identitätsbildung mittels Schriftauslegung stehe. Dass die Aufnahme und Auslegung heilsgeschichtlicher Stoffe gerade in einzelnen Psalmen erfolgt, de­nen – wie es bereits Gärtner herausgearbeitet hat – eine hermeneu-tische Schlüsselstellung im (werdenden) Psalter zukommt, zeigt die besondere Bedeutung, die das Gebet in der jüdischen Religion der persischen und hellenistischen Zeit hat.
Die Studie setzt mit einer ausführlichen Analyse des Schilfmeerliedes in Ex 15 ein, das K. als Paradigma der poetischen Verbindung von Geschichte und Gebet und als literargeschichtlichen Ausgangspunkt der heilsgeschichtlichen Überlieferung in den Psalmen an­sieht. D. h. alle von ihr untersuchten Geschichtspsalmen, zu denen am Ende des Werks noch das Gebet in Neh 9 tritt, werden als von Ex 15 abhängig betrachtet. Dabei unterscheidet K. in Ex 15 literargeschichtlich zwischen dem Miriamlied in 15,20 f.*, das als Hymnus in die vorpriester(schrift)liche Exoduserzählung eingeschrieben worden sei, dem diesem sekundär vorgebauten Meerlied in 15,1*.3.6–8a α.b.9–11a, das nun den priester(schrift)lich erweiterten Exoduszusammenhang voraussetze, und mehreren Fortschreibungen unterschiedlicher Hände (15,13.17–19; 15,11b–12; 15,14–16 und 15,2.4.5.8aβ). Traditionsgeschichtlich spiegele sich in Ex 15 eine Verschmelzung von Psalmentheologie und Exoduserzählung. Mittels der Stellung von Ex 15 in seinem jetzigen narrativen Kontext werde einerseits der Mythos (als Erbe der Psalmen-/Tempeltheologie) historisiert, andererseits die Erzählung my­thisch aufgeladen und transzendiert.
Es folgt eine Analyse von Ps 114, den K. weder als ein Fragment noch als einen Teil eines anderen Psalms, sondern als ein literarisch einheitliches theologisches Lehrstück versteht – so im Anschluss an Hermann Spieckermann (Heilsgegenwart, Göttingen 1989, 151), dessen Werk auch sonst in K.s Buch eine wesentliche Bezugsgröße darstellt. Ps 114 komme aufgrund seiner Mittelstellung die Funktion der besonderen geschichtstheologischen Prägung der Psalmengruppe 111–117 zu.
Über 100 Seiten sind dann der Untersuchung von Ps 78 gewidmet, dessen Grundbestand K. in den Versen 1 f.4b–8.12–18.19aβb–20.23–27.29.40–42.52.54–55a.56.58.60–70.71aβb.72 erblickt. Diese weisheitlich geprägte Lehrdichtung setze bereits die deuteronomisch-deuteronomistische Form der Unterweisung voraus. Zentral für die Geschichtstheologie von Ps 78 (einschließlich seiner mehrstufigen Fortschreibungen) sei die Fokussierung auf die Sündengeschichte. Literargeschichtlich ergebe sich neben der erstmaligen Bezugnahme auf Ex 15 innerhalb des Psalters eine Rezeption von Deuterojesaja sowie eine Priorität gegenüber Ps 114. Traditionsgeschichtlich spiegele Ps 78 die nachexilische Hoffnung auf einen David redivivus. Ein Durchgang durch die Asaphpsalmen (zunächst durch die Psalmen 73–83, dann durch Ps 50) belegt die hermeneutische Schlüsselposition von Ps 78.
Die literargeschichtliche Analyse der Zwillingspsalmen 105–106 kommt zu dem Ergebnis, dass Ps 105, abgesehen von dem redaktionellen Halleluja-Abschluss in V. 45, literarisch einheitlich sei. Die in ihm angeklungene Frage, warum Israel trotz der Bundeszusage nicht das Land besitze, werde in dem literargeschichtlich jüngeren Ps 106 mit dem Hinweis auf den Ungehorsam des Volkes beantwortet. Damit setzten beide Psalmen die entsprechenden »Glaubenstexte« im Pentateuch sowie Ps 78 voraus. Der »priesterlich« zu charakterisierende Ps 106 sei literarisch ebenfalls im Wesentlichen einheitlich, kleinere Zusätze bildeten die Verse 4 f.7*.23b.38bc.48. Auch hier bietet K. eine umfassende redaktionsgeschichtliche Verortung von Ps 105 und 106, sowohl im Nahkontext der Psalmen 101–104 und 107 als auch im Blick auf einen mutmaßlich von Ps 2 bis Ps 100* reichenden älteren Psalter.
Kürzer fällt die Analyse der Psalmen 135–136 aus. Während Ps 135 einen literarisch einheitlichen Hymnus darstelle, sei in Ps 136 zwischen einem Grundbestand in den Versen 1–7.10–17.21–26 und Fortschreibungen unterschiedlicher Herkunft in den Versen 8.9. 18–20 zu unterscheiden. Literar- und redaktionsgeschichtlich verortet K. Ps 136 als Teil der sogenannten Toda-Redaktion im Psalter vor Ps 135 und versteht Ps 136 als Weg von der Geschichte zum Reich Gottes. Eine Nachzeichnung des kompositionellen und theologischen Gefälles von den Wallfahrtspsalmen (Ps 120–134) über das Lob und den Dank in den Geschichtspsalmen 135–136 zur Vorstellung vom spirituellen Aufstieg zu Gott mittels Gebet in Ps 137 beschließt diesen Teil.
Das Buch wird mit grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Geschichte und Gebet und zur betenden Erinnerung von Geschichte sowie mit einer theologiegeschichtlichen Auswertung der mutmaßlichen literargeschichtlichen Abfolge von Ex 15 → Ps 78 → Ps 105 → Ps 106 → Ps 114 → Ps 136 → Ps 135 → Neh 9 abgeschlossen. Dabei korrespondierten Ex 15 und Neh 9 miteinander, insofern Ex 15 und Neh 9 jeweils poetische Gründungsurkunden darstellten, einerseits für das frühe Israel, andererseits für das nachexilische Judentum. Da nach K. alle hier genannten Psalmen die erzählende Überlieferung in einem sehr späten, d. h. mindestens nachpriester(schrift)lichen Stadium voraussetzen, fallen sie für eine Rekonstruktion der Literargeschichte des Pentateuchs weitestgehend aus. Auch wenn man an die literarkritischen Analysen im Detail und an die den gesamten Psalter betreffenden redaktionsgeschichtlichen Hypothesen kritische Rückfragen stellen mag, so verdeutlicht K. überzeugend die Lebendigkeit literar- und auslegungsgeschichtlicher Identitätsdiskurse im antiken Judentum. Letztere reflektiert sie im Blick auf eine »Identität im Text«, wie sie sich im Verhältnis von biblischer Vorlage und biblischer Auslegung niederschlage, auf eine »Identität in der Zeit« als Ausdruck der Verschränkung von biblischer Geschichte und Gegenwart des Beters und auf eine »Identität im Gebet« als dem spiritualisierten kultischen Vollzug der im Text und seiner Auslegung sowie in der Geschichte und in der Gegenwart erlebten Einheit. Damit arbeitet K. an einem gesamtbiblisch wichtigen Textkomplex klar heraus, wie im antiken Judentum Identität im Modus von Schriftauslegung geschaffen, gesichert und überliefert wird. Mittels entsprechender Analysen von analogen Gebetstexten aus Qumran oder dem nicht kanonisch ge­wordenen jüdischen Schrifttum aus hellenistischer Zeit, auf die K. nur sehr knapp zu sprechen kommt, könnte dieses Bild bestätigt und weiter differenziert werden.
Im Blick auf die religionsgeschichtliche Auswertung bleibt die Studie von K. zu stark in einem innerbiblischen Referenzrahmen. Die Frage, wie die Auslegung der Geschichte in den Psalmen auf die Wahrnehmung der ausgelegten Pentateuchtexte selbst rückwirkt, ließe sich noch tiefergehend betrachten. Insgesamt bietet das Werk von K. aber eine beeindruckende Gesamtinterpretation der alttes­tamentlichen Geschichtspsalmen mit einer besonderen Bedeutung für die Beschreibung des Geschichtsverständnisses und die Theologie des Alten Testaments sowie für die Psalterexegese.