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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

25-27

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Pollack, Detlef, Müller, Olaf, Rosta, Gergely, Friedrichs, Nils, u. Alexander Yendell

Titel/Untertitel:

Grenzen der Toleranz. Wahrnehmung und Akzeptanz religiöser Vielfalt in Europa.

Verlag:

Wiesbaden: Springer VS 2014. XII, 247 S. m. 5 Abb. u. 75 Tab. = Veröffentlichungen der Sektion für Religionssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Kart. EUR 39,99. ISBN 978-3-531-18678-8.

Rezensent:

Gerdi Nützel

In elf Beiträgen gehen die mehrheitlich am Exzellenzcluster »Politik und Religion« an der Wilhelmsuniversität Münster forschenden Wissenschaftler der Frage nach, wie Menschen in fünf europäischen Ländern auf die zunehmende religiöse Pluralisierung durch die Einwanderung von Migranten reagieren. Sie gehen dabei zu­nächst deskriptiv und dann explanatorisch vor, indem sie die individuellen und die kollektiv-sozialen Kontextbedingungen für die Akzeptanz bzw. Ablehnung von religiöser Pluralität und der Be­reitschaft zu unterschiedlichen Formen von Toleranz erkunden.
Grundlage für die Überprüfung ihrer Hypothesen, die sie auf der Basis der aktuellen religionssoziologischen und migrationstheoretischen Forschungen bilden, sind die Aussagen, die sie in jeweils rund 1000 etwa 25-minütigen Telefoninterviews professioneller Meinungsforschungsinstitute mit Menschen in den stark durch Migration geprägten Ländern Frankreich, Dänemark und Niederlande sowie als Kontrollkontext in dem wenig durch Migration geprägten Portugal erhalten haben. Hinzu kommen die Aussagen, die ebenfalls jeweils etwa 1000 Ost- und Westdeutsche in 45-minütigen persönlichen Interviews zu den gleichen Fragen wie bei den Telefoninterviews in den anderen europäischen Ländern tätigten, aber noch darüber hinausgehende Aspekte betrafen.
Dieser Vergleich zwischen der Akzeptanz religiöser Pluralität in verschiedenen europäischen Ländern und zwischen Ost- und Westdeutschland macht durchaus auf wichtige Differenzen aufmerksam. Während sich in den anderen europäischen Ländern etwa 70–80 % durch religiöse Vielfalt bereichert fühlen, teilt dies in Deutschland nur die Hälfte der Bevölkerung. Für eine weitere Verbreiterung des religiösen Angebots sprechen sich in den anderen Länder jeweils etwa 40 % aus, in Deutschland nur 10–12 %. Eine positive Haltung gegenüber Muslimen haben in Ostdeutschland 26 %, in Westdeutschland 34 %, in den anderen Befragungsländern dagegen ca. 60 %. Dies wirkt sich auch auf eine geringe Befürwortung des Baus von Moscheen bzw. Minaretten in Deutschland (28 % bzw. 18 % in Westdeutschland, 20 % bzw. 12 % in Ostdeutschland) im Vergleich zu den anderen europäischen Ländern aus, die Zustimmungsraten zwischen 55–74 % zum Moscheebau und 43–53 % zum Minarettbau aufweisen.
Die Erkundung der Differenz zwischen einer mehrheitlichen Befürwortung der Religionsfreiheit und den restriktiven Äußerungen hinsichtlich deren konkreter Realisierung erkundet die Mehrzahl der Beiträge des Buches mit einem regressionsanalytischen Forschungsansatz, bei dem schrittweise immer mehr potentiell relevante Faktoren eingeführt werden. So fragen sie zunächst nach soziostrukturellen Gründen, wobei sich zeigt, dass ein höherer Bildungsstandard im Westen und ein niedrigeres Lebensalter im Osten zu mehr Akzeptanz religiöser Pluralität führen. Der materielle Status hingegen kommt lediglich über die gefühlte subjektive Wahrnehmung und die Angst vor dessen möglicher Bedrohtheit ins Spiel, was die vielfach behauptete Deprivationstheorie nicht bestätigt. Bürgerliche und politische Freiheiten im Blick auf die Ausübung religiöser Pluralität werden nicht grundsätzlich verneint, aber durch die Skepsis, ob Migranten die allgemein geltenden Gesetze halten, relativiert. Das stark ausgeprägte Interesse an kulturell-religiöser Homo genität führt zu einem Bedrohungsgefühl und einer Ablehnung einer rechtlichen Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften.
Auf der individuellen Ebene waren in allen europäischen Ländern die Häufigkeit der Kontakte zu Muslimen und eine positive Einstellung zur Mehrheitsreligion entscheidend. So zeigte sich weniger eine Konfliktlinie zwischen Christen und Muslimen als vielmehr eine zwischen Religionsbejahung und religiöser Distanziertheit. Auf kollektiver Ebene erwiesen sich die politische Diskussionskultur über integrationspolitische Fragen, die kolonial-geschichtlichen Erfahrungen im Umgang mit Fremden, die Kon zeption des Staatsbürgerrechts, Formen von Segregation oder konflikthafter Nähe, aber auch die Konstitution der Migranten hinsichtlich Sprachkompetenz, Bildungsstatus, Urbanität, in­terethnischer Beziehungen als relevant für deren kollektive gesellschaftliche Akzeptanz.
Worin aber bestehen die Grenzen der Toleranz, nach denen der Titel des Buches und die ihm zugrunde liegende Untersuchung fragen? Nils Friedrichs, der im siebten Kapitel des Buches Überlegungen zu einem Modell religiöser Toleranz anstellt, verweist zunächst darauf, dass eine mentale Haltung der Toleranz nicht unbedingt mit entsprechenden Handlungen verbunden sein muss. Er erinnert an John Lockes Verständnis von Toleranz als universalistische Haltung gleicher Rechte für alle Bürger.
Als Basis für seinen Toleranzbegriff wählt er dann die Konzep-tion von Rainer Forst aus, der zwischen den Toleranzformen als Erlaubnis, Koexistenz, Respekt und Wertschätzung unterscheidet, wobei er angesichts der ungleichen Ausgangssituationen von Mehrheitsgesellschaft und andersreligiösen Migranten vor allem die Aspekte Erlaubnis und Respekt für relevant hält. Unter Berücksichtigung der toleranzphilosophischen Konzepte von Otfried Höffe und Michael Walzer differenziert Friedrichs schließlich zwischen einer eher ablehnenden Toleranz und einer affirmierenden Form als Respekt (Forst), aktiver Toleranz (Höffe) und Achtung (Walzer). Unter Bezug auf diese Kategorisierung zieht er die Schlussfolgerung, dass Toleranz als Ressource zur Vermeidung oder Lösung von Konflikten nur eingeschränkt anzutreffen ist. Die Bereitschaft und Fähigkeit zur Anerkennung anderer als gleichberechtigt bei Ablehnung ihrer Überzeugungen und Praktiken existiert zwar prinzipiell bei einem Teil der Mehrheitsbevölkerungen, erfordert aber im Fall des konkreten Umgangs mit befremdenden religiösen Praktiken deren Wertschätzung, die nur bedingt vorhanden ist.
Im gemeinsam von allen Beteiligten verantworteten Schlusskapitel dieses gerade durch seine detaillierten sorgfältigen Differenzierungen wertvollen Forschungsbeitrags zu den »Grenzen der Toleranz« wird noch einmal deutlich herausgestellt, dass weniger der soziale Status als vielmehr die soziale Praxis von persönlichen Erfahrungen und Begegnungen mit Angehörigen fremder Religionen sowie institutionelle, historische und kulturelle Faktoren und die Haltung der Migranten selbst entscheidend für eine tolerante Haltung gegenüber der zunehmenden religiösen Pluralität sind. Für die Situation jedenfalls zum Zeitpunkt der Befragungen im Jahr 2010 gelte, dass bisher keine politische Polarisierung im Sinne eines »Kampfes der Kulturen« festzustellen sei. Dies erlaubt ihnen am Ende eine optimistische Perspektive: »Die wahrnehmbaren Konflikte sind eingebettet in sich dynamisch verändernde soziale, politische, kulturelle und ökonomische Bedingungen, die das Maß der Toleranz moderieren und von deren Gestaltung daher auch Impulse für eine Beeinflussung der analysierten Spannungsverhältnisse ausgehen können.«