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Ausgabe:

Januar/2016

Spalte:

19-20

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Bultmann, Christoph, Rüpke, Jörg, u. Sabine Schmolinsky [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionen in Nachbarschaft. Pluralismus als Markenzeichen der europäischen Religionsgeschichte.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2012. 273 S. = Vorlesungen des Interdisziplinären Forums Religion der Universität Erfurt, 8. Kart. EUR 14,80. ISBN 978-3-402-15848-7.

Rezensent:

Jürgen Mohn

Der zu besprechende Sammelband ging aus einer Ringvorlesung an der Universität Erfurt hervor, die im Wintersemester des Jahres 2009/10 gehalten wurde. Erschienen ist er als achter Band in einer Reihe, die die Vorlesungen des »Interdisziplinären Forums Reli-gion« der Universität Erfurt veröffentlicht. Die in dem Band do-kumentierte Vorlesungsreihe will das Konzept des Pluralismus an­hand von »positiven Bestände[n] in der Religionsgeschichte Europas« (9) erfassen und diskutieren. Das Buch ist daher weniger dem theoretischen Konzept und den Begriffsproblemen der von Burkhard Gladigow inspirierten »Europäischen Religionsgeschichte« zugewendet, sondern will das »Markenzeichen« Pluralismus anhand von Einzelstudien erfassen und vertiefen. Dabei geht die Vorlesungsreihe konzeptionell von den Diskussionen über die »Europäische Religionsgeschichte« aus, wie sie in den zwei Bänden »Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, hrsg. von H. G. Kippenberg, J. Rüpke und K. von Stuckrad, Göttingen 2009« dokumentiert wurden.
Die Themen der einzelnen Beiträge sprechen Ostasien, theologisch-ethische Überlegungen zum Pluralismus, den Beginn der »Europäischen Religionsgeschichte«, die anderen Religionen im christlichen Geschichtsdenken, die christliche Beschäftigung mit dem Islam bei Petrus Venerabilis, Konvertiten zwischen Judentum und Christentum, die Thematisierung paganer Religionen in der Frühen Neuzeit, christlicher Glaube und Pluralismus bei Hugo Grotius, die katholische Mission, die Pluralisierung religiöser Geschlechterkonzepte, die Vielfalt in der christlichen Liturgie so­wie Pluralität und katholische Kirche in der zweiten Hälfte des 20. Jh.s an. Es wird ein weiter Bogen von den Anfängen bis in die Gegenwart geschlagen, wobei Pluralismus nicht nur »interreli-giös«, sondern auch intrareligiös rekonstruiert wird. Die einzel-nen Beiträge haben allerdings keinen konzeptionellen Zusammenhang, sondern gleichen insgesamt eher einem zufälligen Blick auf die europäische Religionsgeschichte im Sinne von Fallstudien. Auch setzen sich nicht alle Beiträge explizit mit der vorgegebenen Fragestellung der Vorlesungsreihe auseinander.
Greifen wir die wichtigeren Aufsätze heraus, die entscheidende Punkte hinsichtlich unterschiedlicher Formationen des Pluralismus herausarbeiten. Der Band beginnt mit einem Beitrag über Pluralität außerhalb Europas, in dem der Historiker Thoralf Klein einen Blick auf die Situation in Ostasien wirft. Allerdings erfährt man nichts über die prinzipielle Struktur dieses Pluralismus. Die Problematik der Übertragung des Religionsbegriffs auf asiatische Länder und die dort festzustellende »unproblematische« Mehrfachzugehörigkeit zu religiösen Traditionen wird leider weder dargestellt, noch reflektiert. Nach diesem Blick von außerhalb Europas wendet sich Christof Mandry den theologischen Überlegungen über den Pluralismus als Problem und Wert zu. Allerdings finden wir auch hier keine systematischen Überlegungen zu unterschiedlichen Strukturen des Pluralismus, sondern das eher evidente Plädoyer, dass der Pluralismus nicht nur einen Wert, sondern auch ein Problem darstelle. Jörg Rüpke zeigt am Beispiel Roms, dass Kategorien wie Religion nicht ausreichen, um die Pluralität religiöser Phänomene in Rom zu beschreiben oder die Frage nach den Anfängen der europäischen Religionsgeschichte wissenschaftlich zu klären. Er setzt hierzu auf Konzepte wie die »Religionisierung« und unterschiedliche Formen der Individualisierung, um das Stifter-Konzept der Entstehung von Religionen zu hinterfragen. Auch wenn er die Pluralisierung nicht explizit thematisiert, zeigt er doch eindrücklich die Komplexität der religiösen Phänomene der hellenistisch-römischen Religionsgeschichte bis zur Durchsetzung des spätantiken Christentums auf. Diese Pluralität ging mit den endzeitlichen Konzepten im christlichen Geschichtsdenken zu Ende. Zumindest zeigt Sabine Schmolinsky, dass ausgehend von biblischen und kirchenväterlichen Vorstellungen in den mittelalterlichen Endzeitkonzepten die Mission und Konversion der »Anderen« (Juden, Heiden, Ketzer) heilsgeschichtlich notwendig und einem Pluralismus abträglich wa­ren. Während wiederum die Beiträge zu Petrus Venerabilis’ Be­schäftigung mit dem Islam und die Untersuchung der Konversionen vom Judentum zum Christentum keine Thematisierung des Pluralismus anstrebten, zeigen sie doch die implizite Pluralität und die unterschiedlichen Strategien der interreligiösen Auseinandersetzung in der europäischen Religionsgeschichte auf. Einen wichtigen Beitrag zur wissenschaftlichen Thematisierung von Religion in der Frühen Neuzeit stellt der Aufsatz von Martin Mulsow dar, weil er mit einem differenzierten und historisierten Wissenschaftsbegriff in der Lage ist, die damalige komplexe Episteme der Gelehrtenkultur und ihre Auseinandersetzung mit den pluralen Religionsformen der paganen Geschichte in die Frühgeschichte der Religionswissenschaft einzuordnen. Hilfreich zum Verständnis des Pluralismus ist der Beitrag von Christoph Baumann zum rechtsphilosophischen Um­gang mit Religionen bei Hugo Grotius, weil er zeigt, dass eine Pluralismusfeindlichkeit in apologetischen Zusammenhängen durchaus mit einer rechtsphilosophischen Pluralismusfreundlichkeit einhergehen kann. Die weiteren Beiträge des Bandes zeigen zwar Beispiele innerchristlicher Pluralität, tragen aber zur Pluralismusdebatte in der europäischen Religionsgeschichte wenig bei.
Der Band führt also mit einigen seiner Beiträge eine Debatte fort, die noch lange nicht – weder historisch noch systematisch – ausreichend erfasst und diskutiert ist.