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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1466–1468

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Prichard, Robert

Titel/Untertitel:

A History of the Episcopal Church. Third, Revised Edition.

Verlag:

New York: Morehouse Publishing 2014. XX, 460 S. Kart. US$ 40,00. ISBN 978-0-81922-877-2.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Die Episkopalkirche, früher und offiziell noch jetzt auch Protestant Episcopal Church in the United States of America, ist – neben den »anglikanischen« Kirchen von England, Irland und Schottland – die älteste unabhängige anglikanische Kirchenorganisation (Kirchenprovinz) außerhalb der Britischen Inseln. Sie wurde nach der amerikanischen Revolution gegründet, als die Loslösung der amerikanischen Kolonien vom englischen Mutterland auch eine kirchliche, zumindest kirchenorganisatorische, Trennung und Verselbständigung der früheren Kolonialgebiete erzwang, und war – in Ermangelung einer Synodalverfassung in der damaligen Kirche von England – mit ihrer Verfassung vorbildhaft für Kirchenprovinzen, die im Laufe des 19. Jh.s in anderen Erdteilen, wenn auch unter anderen politischen Umständen zur Selbständigkeit kamen. Zugleich bildet sie in ihrem Innenleben in vielfacher Hinsicht die ganze weltweite anglikanische Kirchengemeinschaft mit ihren Problemen ab. Deshalb ist die Kenntnis ihrer Geschichte, und damit das vorliegende Buch, von nicht zu überschätzender Bedeutung für die Kenntnis anglikanischer Kirchlichkeit im Allgemeinen.
Schon das Umschlagbild macht den weiten Charakter der Kirche deutlich. Es zeigt Robert Hunt († 1608), den Pfarrer von James­town, der ersten dauerhaften anglikanischen Gemeinde auf amerikanischem Boden, Samuel Seabury und William White, zwei (wie schon an ihrer Kleidung und Haltung erkennbar) sehr verschie-dene Bischöfe des 18. Jh.s, und Harriet Cannon, die Gründerin des ersten Frauenordens der Episkopalkirche im 19. Jh., der Com-munity of St. Mary.
Mit amerikanischer Kirchengeschichte weniger vertraute Leser mögen verwundert sein, dass Robert Prichard mit seiner Darstellung zwei Jahrhunderte vor der Gründung der Kirche einsetzt. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Auffassung, die den »Pilgervätern« der Mayflower (1620) grundlegende Bedeutung zuschreibt, waren Geistliche der Kirche von England, darunter der erwähnte Robert Hunt, schön früher im amerikanischen Kolonialgebiet tätig.
Die ersten drei Kapitel des Buches (Founding the Church in an Age of Fragmentation [1585–1688], The Age of Reason and the Ameri­can Colonies [1688–1740] und The Great Awakening [1740–76]) beschreiben diese Vorgeschichte der unabhängigen Episkopalkirche, während der die »anglikanischen« (die Bezeichnung war noch nicht geläufig) Gemeinden noch ein Bestandteil der englischen Mutterkirche waren und mindestens de facto der Aufsicht des Bischofs von London unterstanden, der diese Aufsicht durch Kommissare ausübte. Dementsprechend stellen diese Kapitel die frühe kirchliche Entwicklung in Amerika in engem Zusammenhang mit derjenigen des englischen Mutterlandes dar, den kirchlichen Richtungsstreitigkeiten im 17. Jh., der allmählichen Umwandlung in Privateigentum stehender Gebiete in königliche Kolonien mit der Folge der Möglichkeit stärkerer Förderung der Kirche von England und der durch die sogenannte »große Erweckung« um die Mitte des 18. Jh. ausgelösten Auseinandersetzungen. In dieser Zeit wurden die geistigen Grundlagen gelegt, auf denen die Väter der Kirche nach der amerikanischen Revolution aufbauten.
Die Auswirkungen der amerikanischen Revolution auf das kirchliche Leben können nicht leicht überschätzt werden. Ein erheblicher Teil der Geistlichen und auch der Gemeindeglieder schlug sich auf die loyalistische Seite und verließ das Land. Die Zurückbleibenden standen lange unter dem Verdacht der Illoyalität gegenüber dem neuen Staat und mussten sich mühsam aus zerstreuten Gemeinden zu einer landesweiten Organisation zusammenfinden. Bischöfe wurden mit einiger Mühe durch Weihen in Schottland und erst danach in England erlangt. Der Vf. beschreibt plastisch die in diesen »kritischen Jahren« (Loveland) zu bewältigenden Schwierigkeiten.
Das 19. Jh. zeigt nicht nur einen Anstieg der Mitgliederzahl, sondern auch eine Steigerung des Anteils an der wachsenden Bevölkerung des Landes, die sich dann kontinuierlich bis in die zweite Hälfte des 20. Jh.s fortsetzt. Der Vf. teilt das 19. Jh. in drei Abschnitte ein (Rational Orthodoxy 1800–1840; Romantic Reaction 1840–1880; A Broad Church 1880–1920). In den Rahmen des ersten Ab­schnitts fallen vor allem Bemühungen um die Hebung der öffentlichen Moral und die Suche nach der eigenständigen Position der Episkopalkirche im Rahmen der zahlreichen anderen Denominationen. Die Bedeutung des Bischofsamtes im Leben der Kirche wuchs; waren die Bischöfe in der Frühzeit in erster Linie Gemeindepfarrer gewesen, die nebenher den Diözesanversammlungen vorsaßen und Priester weihten, so kamen nach und nach Gemeindevisitationen und Hirtenbriefe in Gebrauch. Die ersten kirchlichen Seminare für die Priesterausbildung wurden eröffnet. Im weiteren Lauf des Jh.s waren die wachsende Einwanderung aus römisch-katholischen Ländern und die Oxford-Bewegung Gegen stand von Auseinandersetzungen, wenn es auch – anders als in England– nicht zu einer Verurteilung der Oxfordbewegung kam.
Die Zeit zwischen dem Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1920–1945) war in Amerika zunächst von heftigen theologischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet; Die Depression der 30er Jahre beeinträchtigte das kirchliche Leben erheblich. Die Nachkriegszeit brachte auch für die Episkopalkirche einen lebhaften Aufschwung (»The Church Triumphant« 1945–1965). Dann kehrt die Entwicklung sich jedoch um; von 1966 bis 1990 sinkt die Mitgliederzahl dramatisch von 3,64 Mio. auf 2,44 Mio.
Die letzten Abschnitte, deren Anfügung zu einer Erweiterung um ca. 80 S. gegenüber der Vorauflage geführt haben, machen die kritische Lage deutlich, in der die Episkopalkirche sich seit einigen Jahrzehnten und insbesondere seit der Jahrtausendwende befindet. Ihre inneren Auseinandersetzungen spiegeln die erheblichen theologischen und kulturellen Unterschiede innerhalb der weltweiten anglikanischen Kirchengemeinschaft wider, angesichts de­rer man schon von einer »Zerreißprobe« sprechen kann. Diese Ge­meinschaft, deren Kennzeichen es bisher war, eine einmalige theologische und spirituelle Vielfalt unter einem kirchlichen Dach und in einer gottesdienstlichen Gemeinschaft zusammenzuhalten, scheint in dieser Hinsicht an die Grenzen ihrer Möglichkeiten zu stoßen. Der Vf. beschreibt diese Entwicklung mit bemerkenswerter Offenheit und Unvoreingenommenheit.
In ihrer Gesamtheit bettet die Darstellung die Geschichte der Episkopalkirche in die bewegte Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft ein, ohne die sie nur unzureichend verstanden werden könnte. Sie beschränkt sich nicht auf Theologie- und Institutionengeschichte, sondern macht auch die von der Kirche ausgehenden Aktivitäten im gesamtgesellschaftlichen Bereich erkennbar, z. B. hinsichtlich der Einbeziehung der Indianer und der Abschaffung der Sklaverei. Gleichzeitig wird ihre Bedeutung im Rahmen der ökumenischen Entwicklung deutlich. Deshalb ist dieses Buch unverzichtbar, wenn man sich – über den nationalen und denominationellen Tellerrand hinausblickend – ein umfassendes Bild von der kirchlichen Entwicklung der letzten Jahrhunderte, unter Einbeziehung freilich der anglikanischen Tradition, machen will. Sein lebendiger, gut lesbarer Stil macht es zu einer anregenden Lektüre, nicht nur für Theologen und Kirchenhistoriker, sondern für jeden, der an der Geschichte der Kirche seit dem 16. Jh. Interesse nimmt.