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Ausgabe:

September/1999

Spalte:

892–895

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Watson, Francis

Titel/Untertitel:

Text and Truth. Redefining Biblical Theology.

Verlag:

Edinburgh: Clark 1997. VIII, 344 S. gr. 8. Lw. £24.95. ISBN 0-567-08556-2.

Rezensent:

Michael Labahn

Die Trennung der Biblischen Theologie (=BTh) von der Systematischen Theologie sowie die Differenzierung der biblischen Disziplinen Ende des 18. Jh.s konnten als eine Befreiung der Interpretation des biblischen Textes aus systematisch-theologischen und kirchlich-restriktiven Fesseln verstanden werden. Auch hat die Trennung der biblischen Disziplinen dazu geführt, beide Testamente und deren Schriften in ihrem je eigenen Recht zu verstehen. Wo solche Trennung aber zugleich zu einem Abreißen des Gesprächs zwischen den Disziplinen oder zum Verzicht auf die Klärungen des Verhältnisses der Disziplinen zueinander führt, droht der innere Zusammenhang christlich-theologischen Denkens verlorenzugehen.

Watson, als Nachfolger von I. H. Marshall berufen,1 will mit seiner Arbeit die Mauern zwischen der systematisch-theologischen und den biblischen Disziplinen abbrechen (VII). Anhand beständiger Auslegung von atl., ntl. und frühchristlichen Texten sucht er Überlegungen seines früheren Werkes Text, Church and World (1994) zu präzisieren.2 In der Einleitung (1-29) analysiert W. das gegenwärtige Verhältnis der theologischen und der exegetischen Disziplinen und stellt das Programm seiner Arbeit vor: Die christliche Wahrheit, daß das Wort, durch das alles geschaffen wurde, in Jesus Christus Fleisch wurde, wird durch die geschriebenen kanonischen Texte vermittelt. Die gegenwärtige Trennung der Disziplinen führt hingegen zu einer Trennung von Text und Wahrheit (4). Fehlende theologische Orientierung führt aber auch zur Isolierung der Texte, so daß das AT lediglich zum religionsgeschichtlichen Hintergrund des NT vergleichbar der Qumran-Texte wird; dies führt zugleich zu einem Verlust des NT selbst als christlicher Schrift. Ebenso wird die Trennung von systematischer Theologie und Exegese als ideologische Entscheidung gebrandmarkt; der biblische Text wird von den Exegeten nicht als christliche Schrift gelesen (6). Dem stellt W. sein Programm einer interdisziplinären BTh, die er als eine theologische, hermeneutische und exegetische Disziplin versteht, entgegen.

Der erste Hauptteil Studies in Theological Hermeneutics (31-176) diskutiert zunächst die Dichotomie zwischen historisch-kritischer und narrativer Evangelienexegese (33-69), indem er die Evangelien als historische Dokumente und zugleich als Erzählung (narrative) begreift. W. betont das prae des historiographischen Charakters der Evangelien, das mit der theologischen Bedeutung Jesu einhergeht (34); er definiert die Evangelien als "narrated history" (33). Gründend auf neueren Geschichtstheorien besteht nach W. die erzählte Geschichte in mehr als verifizierbarer oder falsifizierbarer und damit an Irrtümer der Verfasser orientierter Beschreibung von Geschehen (41).

Orientierung auf die Vergangenheit und literarisch-rhetorischer Anspruch werden als Grundlagen der Geschichtsschreibung herausgearbeitet (41ff.). Die Differenzierung zwischen history und fiction bedenkt aber nicht hinreichend, daß fiction- legendarisches Material - auf die reale Wirklichkeit zurückgeht. Nach W. sind die Distanz zum historischen Geschehen und die interpretative Beschäftigung hiermit notwendig, um herauszuarbeiten, daß das Christusgeschehen in seiner grundlegenden und universellen Bedeutung nur in zeitlicher Distanz und damit in der Retrospektive wahrgenommen werden kann (52 f.). Die Vergangenheit lebt als für die Gegenwart bedeutsames Geschehen in dieser fort mit einer Offenheit für die Zukunft (53). Zugleich wird ein Moment des tremendum in der Geschichte ausgemacht (,Grenzerfahrungen’), wo Außergewöhnliches geschieht (Auschwitz als ein tremendum horrendum), das zu fiktionalen Elementen der Darstellung (z. B. Berichte der Zeugen, Legenden) führt, ohne fiktional im Sinne von unwahrhaftig zu sein (60ff.). Die notwendige ordnende Struktur und die auf ein Ziel ausgerichtete Selektion des Stoffes aus disparatem Material geben der Geschichtsschreibung, wie sie in den Evangelien vorliegt, einer literarischen Erzählung vergleichbar, einen plot; darin berühren sich beide, Literatur und Geschichtsschreibung (60). Der im Gespräch mit Ricur gewonnene Ansatz "enables us to conceive of a historiography enriched by fiction and not subverted by it" (57).

So sucht W. gegen historisch-kritische Fragestellungen und gegen positivistische Theorien den historischen Jesus und den verkündigten Christus näher aneinander zu reihen (mit Kähler: 64 Anm. 5). Damit beachtet W. das Faktum, daß der Verkündiger zum Verkündigten geworden ist, das zu Recht nach Bultmann wieder neu bedacht wird und nicht ohne den Gedanken der Wirkungsplausibilität (z. B. G. Theißen) verständlich ist.

Die Betonung der Integrität und Eindeutigkeit des kanonischen Textes richtet sich auch gegen dekonstruktivistische Theorien der Linguistik und gegen leserorientierte Interpretationen, die die Unbestimmtheit des Textes betonen (71 ff.) oder einen Pluralismus möglicher Interpretationen eines Textes propagieren, der egalitär durch die unterschiedlichen Leser entsteht (95 ff.).

Gegen die ,postmoderne’ leserzentrierte These des unendlichen Universums möglicher Deutungen eines Textes verteidigt W. den Literalsinn, die autoriale Absicht und die objektive Interpretation. Wird Schreiben als ein Akt der Kommunikation mit Hilfe des category of the speech act verstanden, so ist auch hierbei von einem "determinate meaning and authorial intention" auszugehen (103; vgl. 98 ff.). Hinter der Abfolge von Worten steht eine Kommunikationsabsicht eines Autors. Das Prinzip der Objektivität gibt der Interpretation und Übersetzung eine Kriteriologie auf, anhand derer die Ergebnisse geprüft werden können (113-115). Das Moment der BTh kommt in der kanonischen Hermeneutik zumTragen, die die Bibel nicht als zufälligen Homunkulus verschiedener Texte versteht, sondern ihre Lektüre von ihrem Zentrum her determiniert (119 ff.): "the life, death and resurrection of Jesus as the enfleshment and the enactment of the divine Word" (121).

Basierend auf der Grundüberlegung, daß der geschriebene kanonische Text die lebenschaffende Wahrheit Gottes vermittelt, wendet sich W. ausdrücklich gegen jegliche theologische Relativierung des AT; diese findet er in der Interpretation des AT bei Schleiermacher, Harnack und Bultmann wieder, die er als "Neo-Marcionism" tituliert (127-176).3

W. macht geltend, daß das Evangelium von Jesus Christus das AT als "primary interpretative matrix" benötigt (159). Zudem geschieht die Evangeliumsverkündigung als Aktualisierung der Tradition in der Geschichte; durch die Aktualisierung der Tradition als Erfüllung der Vergangenheit ist dieses Geschehen als definitiv qualifiziert. Daher ist der kanonische Kontext der Schrift offen für eine Aktualisierung in der Zukunft, die im Jesusgeschehen geschieht. Dabei wird das AT in seine kanonische Rolle gedrängt, in der es von seiner Zielorientierung auf Christus her erst im Vollsinn verstanden wird.

Im zweiten Hauptteil wendet sich W. der Frage zu, wie das AT als kanonischer Text, der Gottes lebenschaffende Wahrheit vermittelt, im Horizont des NT und des gegenwärtigen Christentums verstanden wird: The Old Testament in Christological Perspective (177-329). Seine Grundthese lautet, daß die Bibel in ihrer Gesamtheit (integrity) in dialektischer Abhängigkeit der beiden Testamente bezogen auf ein Zentrum Gegenstand der BTh ist (vgl. 13); "From the standpoint of Christian faith, it must be said that the Old Testament comes to us with Jesus and from Jesus, and can never be understood in abstraction from him" (182).

Der Gegensatz alt - neu bezieht die beiden Schriftenkorpora entlang einer Scheidelinie so aufeinander, daß kein Element verzichtbar ist; die Terminologie verdankt sich dem qualifizierten kairos, der Fleischwerdung des Logos, dem sie so Rechnung trägt, daß sie jede autonome Interpretation des AT zurückweist (182). W. begreift die atl. Exegese als ein christlich-theologisches Unternehmen, das das Neue als Zentrum gegenüber dem Alten profiliert, so daß dieses Alte vom Neuen her verstanden werden muß: "The ’Old Testament’, as Christian scripture, only comes into existence in the moment of absolute newness represented by Jesus, and should be interpreted on the basis of its moment of origin" (207).

Mit der Forderung des Aristoteles (Poetik 1450b), daß "Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden dürfen", sondern sich an den Grundsatz halten müssen, daß "ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat" (Poetik 1450b; Übers.: M. Fuhrmann, Reclam UB 7828, 1982, 25), wendet sich W. der Interpretation des Anfangs des biblischen Kanons, der Schöpfung, zu, indem er diese in Relation zu Mitte und Ende der Schrift, zur Christologie und Eschatologie, setzt. Vor diesem Horizont begründet er eine kanonische Hermeneutik, da die Schöpfung im Licht der gesamten christlichen Bibel gelesen werden muß (226). In Auseinandersetzung mit Moltmann und Barr hält W. den Anfangscharakter der Schöpfung fest. Die Schöpfung ist der ,wahre Anfang, das Fundament und die Voraussetzung’ (232) für die sich entfaltende ,Erzählung des Bundes’, in der die Schöpfung als ihr Fundament ausgelegt wird (230 ff.). Die Bundesgeschichte wiederum erhält ihren historischen ,Höhepunkt und ihre Vollendung’ (239) im Leben Jesu und damit in einem Geschöpf Gottes. Gegen Moltmanns Aufnahme der Eschatologie in ein dynamisches und telosorientiertes Schöpfungsverständnis bringt W. das spätere Produkt des Kanons ein. So betont W. überproportional Vergangenheit (Leben-Jesu-Überlieferung) und Gegenwart als Orientierungspunkte frühchristlicher Überlieferung und Literatur, um so die eschatologischen Wurzeln im frühchristlichen, aber auch in Jesu eigenem Denken unverhältnismäßig zu relativieren.

Die exklusive Bedeutung der kanonischen Texte herausstellend, exegesiert W. in systematisch-theologischer Sicht kritisch die für die biblische Fundierung einer Natürlichen Theologie zentralen Texte Apg 17, Röm 1 und Ps 104 (248-266), um sodann die Imago Dei kanonisch-hermeneutisch zu interpretieren (277 ff.).

W. setzt schließlich sein hermeneutisches Programm ausgehend von Justins Dialogum cum Tryphone um (307 ff.). Dabei arbeitet W. heraus, wie Justin "the Jewishness of Christianity" (Gott als Schöpfer und Offenbarer) als fundamentale Voraussetzung des Christentums versteht (313). Nach W. wird Schrift im Licht Christi, Christus im Licht der Schrift gelesen (325). So gilt, wie W. schon zu Beginn seines Werkes feststellt: "The Christian Old Testament is ... Jewish scripture read as the semantic matrix of Christian faith" (17).

W. stellt sich - so darf zusammengefaßt werden - der gegenwärtigen Diskussion um die Hermeneutik der Bibel in ihrer Breite, um kenntnisreich und kreativ durch das interdiziplinäre Gespräch Position zu beziehen; allerdings vermisse ich die Auseinandersetzung mit neueren deutschsprachigen Arbeiten beispielsweise von Zimmerli, Stuhlmacher und Hübner.

Entscheidend ist für W. der Bezug auf den geschriebenen kanonischen Text. Die Wahrheit an die Schrift zu binden, entspricht ihrer christologischen Funktion. Allerdings ist zu bedenken, daß der Schriftwerdung das mündliche Wort vorausging; auch sollte der Gedanke der viva vox evangelii, die die Wahrheit für den angesprochenen Menschen zum Geschehen werden läßt, nicht ausgeblendet werden.

W. erinnert zu Recht daran, daß der christliche Exeget nicht allein der Historie verpflichtet ist, sondern zugleich auch Theologe ist. Vielleicht präziser formuliert: Als Theologe ist der Exeget der Historie verpflichtet, so daß die Trennung der Disziplinen lediglich aus arbeitstechnischen Gründen zu verteidigen ist. Dennoch zwingt gerade die inkarnationschristologische Argumentation dazu, die Historie ernstzunehmen, in die das Wort eingeht. Das historische Gekommen-Sein des Wortes hat dieses Wort unterschiedlichen Interpretationen ausgesetzt, die sich im Kanon durchaus in unterschiedlicher Weise äußern und zu einer kritisch vermittelnden Hermeneutik Anlaß geben.

Das AT wird von W. konsequent im Sinne des christologischen Zentrums gelesen. Indem es Teil des christlichen Kanons geworden ist, ist es zu einer entscheidenden Veränderung dieses Schriftenkorpus gekommen (vgl. 216). Daß damit atl. Texte noch ihre ureigenen Aussagen und Erfahrungen von Menschen vor Gott zur Sprache bringen können, vermag ich nicht recht zu sehen. Doch ist gegen Mißverständnisse herauszustellen, daß W. anerkennt, daß "the texts might be interpreted differently if read within an interpretative framework other than that of Christian faith" (217). Zugleich aber steht dies unter einem exklusiven Wahrheitsanspruch der christlichen Interpretation: "a Christian theological hermeneutic uncovers the true theological dynamic of the texts themselves" (ebd.). Dies wiederum befrachtet außerchristliche Lektüre des AT im Blick auf die Wahrheitsfrage mit einem hohen Defizit.

Der Protest von W. gegen den Pluralismus der Interpretationen, deren Weg die historisch-kritische Bibellektüre mit bereitet hat,4 läßt sich lesen als ein Protest gegen ein inhaltsleeres und bedeutungsoffenes Christentum. Die Frage nach dem Eigentlichen christlicher Botschaft ist dem biblischen Exegeten gestellt. Doch schon das NT belegt, daß dieses Zentrum unterschiedlich interpretiert wird. Sicherlich ist der Kanon ein Nein zu einem unbegrenzten Kosmos der Interpretationen, indem er gnostische, marcionitische oder manichäische Interpretationen des christlichen Zentrums ausgrenzt, aber zugleich lädt er ein zu einer je neuen Lektüre, die durch die Lesersteuerung der Texte selbst nicht zur Unendlichkeit der Interpretationen führt.

Die kritischen Rückfragen, die bestenfalls den Beginn einer kritischen Aufarbeitung der These dieses Buches bieten, zeigen, daß W. ein herausforderndes und zur Diskussion anregendes Buch vorgelegt hat.

Fussnoten:

1) Freundlicher Hinweis von Prof. Dr. O’Neill, Edinburgh.

2) Vgl. J. Riches, Text, Church and World, in: Biblical Interpretation 6, 1998, 205-234.

3) Auch wenn W. lediglich von einer heuristischen Bezeichnung spricht, haftet ihr das Odium der Häresie an und werden diese Positionen als antisemitisch verdächtigt (vgl. 128.162 sowie die polemischen Pauschalismen 156). So verbindet W. mit dem Hinweis auf die zeitliche Nähe von Bultmanns Theologie und des Dritten Reiches den Vorwurf des Antisemitismus: "The fact that much of Bultmann’s Theology came into being in the context of the Third Reich makes the relationship between ’neo-marcionism’ and anti-Semitism especially urgent" (13); vgl. dagegen die differenzierte Darstellung durch K. de Valerio, Altes Testament und Judentum im Frühwerk Rudolf Bultmanns, BZNW 71, 1994.

4) Vgl. jetzt U. Luz, Kann die Bibel heute noch Grundlage für die Kirche sein?, in: NTS 44, 1998, 317-339.