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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1455–1459

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Stolleis, Michael

Titel/Untertitel:

Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 4 Bde.

Verlag:

München: C. H. Beck Verlag. Bd. 1 (1988) (2., erg. Aufl. 2012): Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. 431 (435) S. ISBN 978-3-406-32913-5; Bd. 2 (1992): Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914. 486 S. ISBN 978-3-406-33061-2; Bd. 3 (1999): Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in Republik und Diktatur 1914–1945. 439 S. ISBN 978-3-406-37002-1; Bd. 4 (2012): Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945–1990. 720 S. ISBN 978-3-406-63203-7. Lw. Einzelbde.: je EUR 68,00. Gesamtwerk (2012): EUR 228,00. ISBN 978-3-406-63388-1.

Rezensent:

Norbert Janz

Die monumentale Tetralogie über das öffentliche Recht in Deutschland ist vollendet. Nach fast einem Vierteljahrhundert hat Michael Stolleis sein 2076-seitiges Opus magnum abgeschlossen. Dabei wird die Geschichte des öffentlichen Rechts als Literaturgeschichte der wissenschaftlichen Erfassung, der dogmatischen Durchdringung und Systematisierung des öffentlichen Rechts verstanden. S. ist seit 2006 Emeritus der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, an der er einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Rechtsgeschichte innehatte. Von 1991 bis 2009 war er Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte.
Der erste Band von 1988 umfasst 200 Jahre der öffentlich-rechtlichen Rechtsgeschichte in Deutschland, »Reichspublizistik und Polizeywissenschaft«. Das 17. und 18. Jh. des ius publicum der frühen Neuzeit waren zuvor eher mäßig wissenschaftlich ausgeleuchtet, anders etwa als die Privatrechts- und die Verfassungsgeschichte, die jeweils gut erforscht sind. Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland haben nach etlichen (Um-)Brüchen nur mehr losen Kontakt zu diesen »dark centuries«. Dessen ungeachtet bieten die acht Kapitel nebst Einleitung und Zusammenfassung einen anregenden Lesegenuss. Es wird im ersten Teil begründet, ab wann sich das ius publicum als Sonderrecht der öffentlichen Herrschaft entfaltete und die Entwicklung des modernen Staates begleitete. Die Wende vom 17. zum 18. Jh. markiere hier eine deutliche Zäsur. Die Rezeption des römischen Rechts sei abgeschlossen gewesen. Mit einem differenzierenden Erklärungsansatz erläutert S. die Emanzipation des öffentlichen Rechts und damit auch die Entstehung des Verwaltungsrechts und der Staatswissenschaften.
In den nächsten drei Kapiteln werden die Bedeutung der Politik und die Anfänge des neuen Rechts ergründet. »Je mehr sich das politische Denken aus seinen religiösen Verankerungen zu lösen begann, desto unverhüllter traten die Techniken von Machterwerb und Machterhaltung zutage.« Akteure dieser Zeit werden kundig mit Werken und Wirken gezeigt. Denn es spricht nicht das öffentliche Recht als »persona mystica«, sondern Menschen in denjenigen Berufsgruppen, die über öffentliche Angelegenheiten nachdenken, sprechen und schreiben. Abschließend benennt S. das Desiderat des ius publicum imperii romano-germanici. Dieses Recht wird an­schlie­ßend in Konfessionsstreit und Staatsbildung eingebettet. Die Entstehung des öffentlichen Rechts sei auch, aber nicht ausschließlich als Antwort auf Strukturwandlungen der Herrschaftsausübung in der frühen Neuzeit zu verstehen. Sehr lesenswert sind die Wirkmächte der Gesetzgebung und der Hohen Gerichtsbarkeit (Reichskammergericht und Reichshofrat) erläutert. Nur zaghaft sei das neue Fach öffentlich anerkannt und institutionell gefestigt worden. Letztlich könne der Beginn des ius publicum nicht genau datiert werden, es fehlten Gründungsvater, Geburtsstätte und Geburtsstunde.
Der Zeit nach dem Westfälischen Frieden 1648 ist der fünfte Abschnitt gewidmet. Eine Analyse der Reichspublizistik und der Universitätslehre ergebe Einigkeit über die Abwendung vom römischen Recht und die Zuwendung zum positiven Reichsverfassungsrecht. Zeitgeschichtlich Erhellendes konnte der Rezensent den Ausführungen zu »Disputationen und Dissertationen« entnehmen. Besonderes Augenmerk wird auf Johann Jakob Moser gelegt, der mit seinem auf 500 bis 600 (!) Bände geschätzten Werk ein wahres »Gebirge von Büchern« aufgetürmt hatte. Das nachfolgende Kapitel widmet sich dem Naturrecht. Sein Aufstieg und seine Lehrer werden kenntnisreich nachgezeichnet. Der siebente Teil befasst sich mit der Entwicklung in den Universitäten Halle und Göttingen. Hiernach werden Aufklärung, Französische Revolution und das Ende des alten Reiches – und damit das Ende der Reichspublizistik – nachgezeichnet.
Die beiden letzten Kapitel befassen sich dann mit »Gute Policey« sowie »Policeywissenschaft und Policeyrecht«. Es geht um die praktische Verwaltungstätigkeit, die von der juristischen Universitätsliteratur des 16. bis 18. Jh.s nur allmählich erfasst wurde. Die moderne Verwaltungsrechtslehre ist hingegen ein modernes Fach, das erst im 20. Jh. richtig reüssierte. Die Policey verwissenschaftlichte sich peu á peu. Es war also ein weiter Weg von der guten Policey zum heutigen rationalen Verwaltungsverfahrensrecht. S. schildert überaus lehrreich die Anfänge und die erste Entwicklung; Regierungshandbücher, Formelbücher, Verwaltungsordnungen und Rechtstexte werden präzise erläutert. Form und Handhabung der Macht veränderten sich ebenso wie die Beziehungen zwischen Herrschenden und Beherrschten.
Es schließt sich als zweiter Band die »Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800–1914« an. Nach einer Skizze des deutschen öffentlichen Rechts um 1800 analysiert S. die Staatsrechtslehre und die allgemeine Staatslehre im Vormärz sowie die dogmatischen Grundpositionen auch in Hinblick auf die einzelnen Bundesstaaten. Wegweisende (Vor-)Denker werden mit ihren Ansätzen und Veröffentlichungen anschaulich dargelegt.
Die Zeit um 1848 wird intensiv ausgeleuchtet, um anschließend den staats- und verwaltungsrechtlichen Weg zur Reichsgründung 1871 auszuloten. Es wird deutlich, weshalb das 19. Jh. als Jahrhundert der Entstehung des Verwaltungsrechts angesehen wird. »Nationale Einigung« und »Rechtsstaat« seien für die deutsche Geschichte die großen Errungenschaften der zweiten Hälfte des 19. Jh.s. Die Anfänge eines eigenständigen Verwaltungsrechts und die Abscheidung vom Polizeirecht sind lesenswert herausgearbeitet. »Die alte Polizeiwissenschaft und das neue Verwaltungsrecht waren Disziplinen mit unterschiedlicher Perspektive. Die Polizeiwissenschaft war das Arsenal der für den Staat und seine Bürokratie nützlichen Kenntnisse zur Optimierung des Staatszwecks, das Verwaltungsrecht war entsprechend der Verfassungslage doppelgesichtig: sowohl Lenkungsinstrument zur Erfüllung staatlich gesetzter Zwecke als auch Grenzlinie bürgerlicher Freiheitsrechte.« Den Schlusspunkt bilden Ausführungen zu den öffentlich-rechtlichen Wissenschaftsdisziplinen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Politische und gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln sich in der Rechtslehre wider. Die erste Generation der Staats- und Verwaltungsrechtler nach 1870 wird mit Liebe zum (wissenschaftlichen) Detail beschrieben.
In seinem vorletzten Band skizziert S. anschaulich auch ein personales Panorama der Zeit von 1914 bis 1945. Die verhältnismäßig kurze Zeitspanne umfasst drei deutsche Regimes mit entscheidenden historischen Wendemarken und gehört zur gesellschaftlichen Kollektiverinnerung. Es finden sich zehn Kapitel. Die Darstellung ist wiederum im Grundsatz chronologisch gegliedert, orientiert sich aber gleichfalls an Gesichtspunkten inhaltlicher Zusammengehörigkeit. Nach fundamentalen Überlegungen zum langen Ab­schied aus dem 19. Jh. – August 1914 als Zäsur der Weltgeschichte – finden sich instruktive und mit 20 Seiten eher kurzgefasste Ausführungen zum Ersten Weltkrieg. Das Kriegsende schaffte nicht nur eine Vielzahl neuer öffentlich-rechtlicher Probleme. Das öf­fentliche Recht erfuhr durch den Übergang in die Republik auch einen deutlichen Bedeutungszuwachs.
Nach »Revolution, Reichsverfassung und Versailles« sind »Landesverfassungs- und Verwaltungsrecht« sowie »Methodenstreit und Staatskrise« abgehandelt. Behutsam – wenn auch nicht wirklich neu – sind die Traumata der Republik nachgezeichnet. Der Schöpfer der Weimarer Reichsverfassung, Hugo Preuß, wird hinreichend gewürdigt. S. bewertet dessen Verfassung zutreffend positiv, die oftmals propagierten »Fehler« seien »theoretische Konstrukte ex post«, und zwar »aus der Perspektive des Scheiterns«. Die Weimarer Republik wird thematisch mit der Erörterung der Verwaltungsrechtslehre und Verwaltungslehre abgeschlossen. Breiten Raum nimmt zu Recht die 1922 gegründete Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer ein.
Einen deutlichen Schwerpunkt bildet das Dritte Reich, konkret die Staats- und Verwaltungsrechtslehre mit ihrer Zerstörung und Selbstzerstörung bis zum Ende im Mai 1945. S. fördert spannende Einzelheiten zutage, die sich beeindruckend fakten-, nachweis- und geistreich zu einer beklemmenden tour d’horizon einer Wissenschaftsgeschichte in der Diktatur zusammenfügen. Als besonders lesenswert hat der Rezensent die Beschreibung des Bedeutungsverlustes der staatsrechtlichen Theorie ohne irgendeinen messbaren Einfluss auf die Entwicklung empfunden. Heute noch erschreckend ist es, wie sich viele Staatsrechtslehrer dem NS-Re­gime andienten. Erhellend waren die Einblicke in das rechtswissenschaftliche Schrifttum, insbesondere die Grundrisse und Lehrbücher. Nicht zuletzt lässt sich dieser Abschnitt mit seiner Be­schreibung der Pervertierung des Rechts auch als eine Mahnung für künftige Generationen interpretieren. Dieser Band liegt zusätzlich in einer preisgünstigen broschierten Ausgabe vor.
Im letzten, 2012 erschienenen Band führt S. den Leser durch die deutsche Nachkriegszeit bis hin zur Wiedervereinigung, mit der die Darstellung dann weitgehend abschließt. 1990 sei eine Zeitgrenze, an der die historische Arbeit die Gegenwart erreiche. Sieben Kapitel umfasst die spannende und lehrreiche Reise durch diese Wissenschaftsgeschichte, die mit 720 Seiten deutlich umfangreicher als die drei übrigen Bände ausgefallen ist. Sie beginnt mit »Wiederaufbau und Selbstfindung« und geht über »die Lehrjahre der Demokratie« einschließlich der 1968er, um in »Konsolidierung und Krisenma-nagement (1972–1990)« zu münden. Am Ende der Enzyklopädie steht der Abschnitt »Europäisierung und Wiedervereinigung«. Es kommen gleichermaßen West wie Ost zur Sprache, wobei die bundesrepublikanische Entwicklung breiter ausfällt. Die Darlegung der Ge­schichte des öffentlichen Rechts in der DDR beruht in weiten Teilen auf dem 2009 erschienenen Buch »Sozialistische Gesetzlichkeit«, mit dem S. als Erster die Nachkriegsgeschichte der dortigen rechts wissenschaftlichen Entwicklung nachzeichnete. Bis an die Gegenwart heran reicht dann die Skizze der neugegründeten juristischen Fa­kultäten.
S. schildert nicht nur historische Ereignisse von Beginn der Neujustierung des öffentlichen Rechts ab 1949, sondern konzentriert sich – wie in den Bänden zuvor – staats-, verwaltungs- und völkerrechtlich eben auch auf Menschen, Institutionen (insbesondere die Staatsrechtslehrervereinigung mit ihrer Jahrestagung), Zeitschriften und sonstiges Schrifttum sowie Fakultäten. Deren Entwicklung und Verzahnung werden eingebettet in die Rechtsgeschichte von Bund und Ländern. Es finden sich ebenso die maß-gebenden theoretischen Diskussionen. Sehr lesenswert sind die staatskirchenrechtlichen Passagen, die gleichermaßen gedrängt wie pointiert die »freie Kirche im demokratischen Staat« beschreiben. Zu Recht geißelt S. bereits zu Beginn seiner Analyse die Kontinuitäten zwischen dem Dritten Reich und dem westlichen Nachkriegsdeutschland sowie die große Milde in personeller Hinsicht; nur wenige NS-Belastete wurden etwa aus der Staatsrechtslehrervereinigung ausgeschlossen.
Das 13-seitige Personenregister ist erschöpfend und damit be­merkenswerterweise doppelt so lang wie das Sachverzeichnis. Register und Verzeichnis beziehen sich – wie in den anderen Bänden – ausschließlich auf diesen Band; hier wäre eine Gesamtaufstellung nützlich gewesen. Durchaus geteilter Meinung kann man ebenfalls über den gänzlichen Verzicht auf Grafiken, Bilder und Tabellen in allen vier Teilbänden sein. Das zeitliche Voranschreiten der Darlegung führt notabene dazu, dass keine abgeschlossenen Bio graphien zu lesen sind. Bereichernd, wenn auch mitunter etwas breit, sind punktuelle Vertiefungen, wenn etwa auf fünf Seiten Forsthoffs Lehrbuch zum Verwaltungsrecht aus dem Jahr 1950 wiedergegeben wird. Hier wie andernorts beschleicht den Rezensenten die Vermutung, dass mitunter vorveröffentlichte Einzelbeiträge (zu) breit Eingang gefunden haben.
Insgesamt stellt das Werk auch aufgrund seiner eleganten Formulierung und der durchweg klaren Sprache einen außerordentlich anregenden Lesegenuss dar, Theorie und Praxis des öffentlichen Rechts werden mit Mut zu deutlichen Worten und zur (Be-) Wertung anschaulich gemacht, und zwar aus einer Feder, also aus einem Guss. S. erweist sich als uneingeschränkter Doyen der Ge­schichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. Für den eiligen Leser bietet sich seit 2014 das schmale Buch »Öffentliches Recht in Deutschland. Eine Einführung in seine Geschichte. 16.–21. Jahrhundert« an. Jeder ernsthaft am öffentlichen Recht Interessierte sollte zumindest diese Essenz der Forschung S.s lesen.
In seinem finalen Rückblick des vierten Bandes kommt S. zu dem Schluss, dass es auf der Ebene des geltenden öffentlichen Rechts einen Perspektivwechsel gebe: Das Interesse an verfassungstheoretischen, vergleichenden und historischen Grundlagen sei deutlich angestiegen, um den Weg nach vorn zu meistern. Der vorliegende vierblättrige Solitär wird seinen Beitrag hierzu leisten. Man darf gespannt sein, wann es an der Zeit ist, die 1990er Grenze zu verschieben, weil dann eine weitere, nämlich die jüngste Ge­schichte des öffentlichen Rechts in Deutschland vorliegt.