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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1453–1455

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Schmoeckel, Mathias

Titel/Untertitel:

Das Recht der Reformation. Die epistemologische Revolution der Wissenschaft und die Spaltung der Rechtsordnung in der Frühen Neuzeit.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2014. XVIII, 311 S. Lw. EUR 89,00. ISBN 978-3-16-152868-2.

Rezensent:

Boas Kümper

Gibt es ein konfessionsspezifisches Rechtsdenken, also eine be­stimmte lutherische, reformierte oder römisch-katholische Sicht auf das Recht? Diese Frage ist bislang vornehmlich für die frühneuzeitliche Staatslehre diskutiert worden. In seiner hier anzuzeigenden Schrift geht der Bonner Rechtshistoriker Mathias Schmoe­ckel über diesen Bereich weit hinaus und möchte die konfessio-nelle Prägung des frühneuzeitlichen Rechtsdenkens insgesamt nachweisen, indem er den Blick auf die Strafrechtspflege, das Vertrags- und Wirtschaftsrecht sowie das Prozessrecht erstreckt. Dabei kann er sich auf eine Vielzahl eigener Vorarbeiten stützen, die er nunmehr monographisch zusammenführt. Vorauszuschicken ist, dass sich die Untersuchung in räumlich-personeller Hinsicht im Wesentlichen auf das Umfeld der Reformatoren Luther, Melanchthon und Calvin sowie in zeitlicher Hinsicht auf das 16. Jh. konzentriert, um sich auf noch einigermaßen konturenscharfe konfessionelle Lager beziehen zu können.
S. zufolge zog die durch die Reformation bewirkte konfessionelle Spaltung notwendig eine Spaltung der gesamten Rechtsordnung nach sich. Deren Ursache erblickt er in einer grundlegend veränderten Erkenntnislehre der Reformatoren, die im römisch-katholischen Bereich erst mit einer gewissen Verzögerung übernommen wurde. Diese erkenntnistheoretische Verortung der konfessionsspezifischen Unterschiede hat zur Folge, dass sich die Untersuchung von einer prosopographischen Betrachtung lösen und nach einer »Änderung des juristischen Denkens aus sich selbst heraus« forschen kann. Seine Thesen entwickelt S. in drei großen Abschnitten.
Das Kapitel »Epistemologische Neuerungen« zeichnet die durch die Reformation bewirkten Veränderungen in der Erkenntnislehre nach. Während die römische Kirche die Erkenntnislehre mit der Autorität des Papstes als oberstem Richter und Gesetzgeber verknüpfte, schlug die neue Theologie der Reformatoren unmittelbar auf die Epistemologie durch: Bedurfte es für Rechtfertigung und Bibelexegese nicht mehr der päpstlichen bzw. kirchlichen Mittlerschaft, so musste dies auch für die Erkenntnismöglichkeiten auf weiterem wissenschaftlichen, namentlich juristischem Felde gelten; auch hier hatte jede Erkenntnis unter dem Vorbehalt besserer Erkenntnis zu stehen. Dadurch gewannen einerseits Fragen nach der korrekten wissenschaftlichen Methode an Gewicht, andererseits mussten sich protestantische Juristen weniger streng auf eine bestimmte Rechtstradition festlegen und konnten mit einer gewissen rechtsschöpferischen Freiheit Institute des römischen Rechts, des heimischen Ius proprium und des nach wie vor in vielen Materien unverzichtbaren kanonischen Rechts verbinden.
Der reformatorische Angriff auf die Autorität des Papstes betraf nicht nur dessen geistlichen, sondern zugleich dessen weltlichen Herrschaftsanspruch. Im Abschnitt »Die Entsakralisierung der Herrschaftsrechte« werden daher die Lehren der Reformatoren zur Stellung der weltlichen Obrigkeit in den Blick genommen, insbesondere ihre Auffassungen zur Reichweite der Herrschaftsbefugnisse und zur Bindung der Herrschenden an das Gesetz. Hier werden deutliche Unterschiede zwischen lutherischem und calvinistischem Staatsverständnis sichtbar, die S. anhand des Konflikts zwischen der reformierten Stadt Emden und deren lutherischem Landesherrn seit 1595 exemplifiziert. Die Spaltung des Rechtsdenkens vollzog sich mithin nicht nur zwischen dem römisch-katholischen und dem protestantischen Lager, sondern auch innerhalb der Protestanten.
Das Kapitel »Disziplinierung des Lebens« wendet sich den Auswirkungen des reformatorischen Denkens auf das Straf-, Privat-, Wirtschafts- und Prozessrecht zu. Hier beobachtet S. ebenfalls signifikante rechtswissenschaftliche wie rechtspraktische Folgen der im Ausgangspunkt theologischen Forderungen. Freilich treten an dieser Stelle die Schwierigkeiten einer konfessionsspezifischen Zuordnung von Rechtsentwicklungen noch einmal besonders deutlich hervor: Nicht nur waren Obrigkeiten und Juristen in Territorien unterschiedlicher Konfession vielfach mit denselben Ordnungsaufgaben und Rechtsfragen konfrontiert; auch können man- che der hier angeführten Beispiele innovativen Rechtsdenkens – etwa die Ablehnung der Todesstrafe durch Theophrast von Hohenheim (Paracelsus) oder den sächsischen Pfarrer Valentin Weigel (1533–1588) – kaum als repräsentativ für ein bestimmtes konfessionelles Umfeld gelten, da es sich bei jenen Autoren nicht um maßgebliche Autoritäten handelte. S. hebt denn auch mit Recht hervor, dass der konfessionelle Einfluss keinesfalls monokausal veranschlagt werden könne und weitere Einzeluntersuchungen zum Nachweis entsprechender Wirkungszusammenhänge erforderlich seien.
Abschließend führt S. aus, die Spaltung der Rechtsordnung sei nur eine vorübergehende gewesen, da sich nach und nach die epis­temologischen wie die juristischen Neuerungen auch im römisch-katholischen Einflussbereich durchsetzten. Für ihn wird somit das Recht zur »Brücke zwischen den Konfessionen«, die Jurisprudenz zur einenden, geradezu »katholischen« Wissenschaft. Aus seinen Beobachtungen zur fundamentalen Bedeutung der Reformation für die europäische Wissenschafts- und Rechtsentwicklung zieht S. dann sehr weitreichende Folgerungen sowohl in rechtshisto-rischer als auch in theologischer und reformationshistorischer Hinsicht: Zum einen sollen rechtshistorische Analysen frühneuzeitlicher Vorgänge nicht mehr ohne Berücksichtigung der konfessionellen Bezüge möglich sein. Zum anderen lägen die Wirkungen der Reformation weniger auf theologischem und kirchlichem Felde, sondern als »Reformation des Lebens, der Kultur und der Wissenschaften« in der Säkularisierung der Welt und in der Begründung einer modernen Gesellschaft (294 ff.). Daher werde auch die »wahre Aufgabe der Kirche« verkannt, wenn Bischöfe und Kirchentage sich als Juristen oder Ökonomen gerierten; und die Reformationsgeschichte solle »weniger dem Bezug zu irgendwelchen Kirchen oder Sekten nachgehen, sondern sich den Auswirkungen im Leben und den Wissensgebieten widmen«.
Diese den engeren Bereich der rechtshistorischen Forschung überschreitenden Forderungen dürften Anlass zu kritischer Diskussion geben. So lassen sich etwa Einwände gegen eine politisierte Kirche auch unter Betonung gerade des theologischen Eigenwertes reformatorischen Gedankengutes formulieren. Und die konfessionsverbindende Wirkung der Jurisprudenz kann ihrerseits für eine gewisse Eigenständigkeit des Rechtsdenkens sprechen. Jedenfalls wird der von S. überaus stark akzentuierte Einfluss der Reformation für viele Vorgänge der europäischen Rechtsentwicklung durch weitere Faktoren zu relativieren sein. Gerade diese – von S. explizit intendierten – Anstöße zu Widerspruch und weiterer Forschung machen jedoch die material- wie gedankenreiche Studie besonders lesenswert.