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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1451–1453

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Sandberg, Russell

Titel/Untertitel:

Religion, Law and Society.

Verlag:

Cambridge u. a.: Cambridge University Press 2014. XII, 277 S. m. 1 Abb. = Cambridge Studies in Law and Society. Geb. US$ 99,00. ISBN 978-1-107-02743-5.

Rezensent:

Hanns Engelhardt

Das Buch beginnt mit einem Paukenschlag: »Am 22. März 2006 starb die Religionsfreiheit.« Mit diesen Worten leitet Russell Sandberg seine Diskussion des Urteils des britischen House of Lords von jenem Tage ein, durch das das oberste Gericht des Vereinigten Königreichs das Verbot einer englischen Privatschule für zulässig erklärt hat, in der Schule einen jilbab, das ist ein knöchellanges, die Körperformen, nicht aber das Gesicht verhüllendes Gewand, zu tragen.
Zum Verhältnis von Religion, Recht und Gesellschaft erörtert der Vf. drei Fragen: 1. Welche Erkenntnisse lassen sich aus der Verbindung von Ergebnissen rechtswissenschaftlicher und soziologischer Untersuchungen der Religion herleiten? 2. Wie kann ein solches Herangehen unser Verständnis des Platzes der Religion in der Gesellschaft des 21. Jh.s verbessern? 3. Welches sind die Gefahren eines solchen Vorgehens, wenn es welche gibt?
Zur ersten Frage sieht der Vf. in der »juridification of religion« einen zwingenden Anlass für eine Verbindung von juristischer und soziologischer Analyse, da die Interaktion von Recht und Religion erhebliche soziale Auswirkungen hat. Juristen und Soziologen, die sich mit Religion befassen, stehen vor ähnlichen Problemen, insbesondere was die Position der Religion in der Öffentlichkeit betrifft. Die Gerichte müssen sich bei der Entscheidung religionsrechtlicher Fälle mehr und mehr soziologischer Untersuchungen bedienen, um festzustellen, ob ein Eingriff in die religiösen Rechte eines Klägers gerechtfertigt ist. In einer Fallstudie zum Verbot bestimmter religiös motivierter Bekleidungsbräuche (Kapitel 1) zeigt der Vf., wie schon die Bestimmung des juristischen Begriffs der Religion geeignet ist, eine bestimmte Entscheidung zu präformieren und etwa Überlegungen zur Zumutbarkeit von Rechtsbeschränkungen von vornherein überflüssig zu machen. Wenn etwa schon ein Eingriff in die Religionsfreiheit durch Bekleidungsvorschriften einer Schule verneint wird, weil die Schülerin sich ja für eine andere Schule entscheiden könne, dann erübrigt sich die Frage, ob es für diese Vorschriften rechtfertigende Gründe gibt, denen gegenüber die religiösen Gefühle der Schülerin zurücktreten müssen. Der deutsche Leser wird sich in diesem Zusammenhang nicht nur an das vieldiskutierte Kopftuchverbot, sondern auch an das aus dem Tierschutzrecht hergeleitete Schächtungsverbot erinnern.
Zur zweiten Frage betrachtet der Vf. die These einer Säkularisierung der Gesellschaft. Er untersucht ausführlich die Argumente, die die Säkularisierungsthese bilden, und analysiert, wie sie das juristische Material bereichern oder durch es bereichert werden können. Er weist darauf hin, dass die neutestamentliche Forderung, »dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«, voraussetzt, dass es eine klare Trennungslinie zwischen dem weltlichen und dem religiösen Bereich gibt und dass die weltlichen Gewalten keinen Einfluss auf die religiösen haben. Diese Annahmen zieht er jedoch mit guten Gründen in Zweifel und weist darauf hin, dass diese Bereiche sich überschneiden, sich gegenseitig beeinflussen und sich auch ändern; ihre Grenzen sind ungenau und verschieben sich im Licht neuer Werte und Erwartungen.
Dabei unterscheidet der Vf. die Säkularisierung des gesellschaftlichen Umfeldes und die innere Säkularisierung der Religionsgemeinschaften. Die innere Säkularisierung beruht weithin auf einer Anpassung an das gesellschaftliche Umfeld. Als Beispiel für sie beschreibt der Vf. vor allem die Entwicklung der Anstellungsverhältnisse geistlicher Amtsträger. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Hinweis, dass das Department of Trade and Industry, eine britische (staatliche) Regierungsbehörde, 2004 ein Statement of Good Practice bezüglich clergy working conditions erarbeitete, in dem es für die Regierung das Recht in Anspruch nahm, Arbeitnehmerrechte auf Geistliche auszudehnen.
Zur dritten Frage weist der Vf. auf die Probleme hin, die bei einer Vermischung juristischer und soziologischer Gesichtspunkte beim Herangehen an die Sache entstehen können, vor allem auf die Gefahr eines unangemessenen Übergewichts der einen oder anderen Seite. Er fordert, die jeweiligen unterschiedlichen Methoden klar zu beachten und anzuwenden. Der deutsche Leser mag sich dabei an die Diskussionen erinnern, die um die Mitte des vergangenen Jh.s im Zusammenhang mit der Neustrukturierung des deutschen Staatskirchenrechts durch Rudolf Smend und seine Schule geführt wurden und bei denen z. B. der 2011 verstorbene Staats- und Staatskirchenrechtslehrer Helmut Quaritsch schon früh ein »Zurück zur juristischen Methode im Staatskirchenrecht« gefordert hat.
Allerdings ist für den Vf. Säkularisierung nicht das letzte Wort. Er spricht sich dafür aus, einen Schritt über diese These hinaus zu tun. Er weist in diesem Zusammenhang auf den sogenannten »subjective turn« hin, der – von dem kanadischen Philosophen Charles Taylor ausführlich beschrieben – sich darauf bezieht, dass in der modernen Kultur die Subjektivität des Individuums eine, wenn nicht die einzige, Quelle von Bedeutung und Autorität geworden ist. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Entwicklung die kirchliche Autorität schwächen kann, ohne dass gleichzeitig die Religion, oder vielleicht besser: die Religiosität, zurücktreten müsste. Der Vf. stellt aber sechs verschiedene Warnschilder auf: 1. sei zu beachten, dass der »subjective turn« nur einen Teil der Er­klärung darstellt; 2. sei er kein »absolute trend«; 3. impliziere der Gebrauch des Begriffs nicht notwendig einen Individualismus, der durch einen Abstieg in Selbstsucht und Selbstbezogenheit charakterisiert sei; 4. müsse bestimmt werden, was an diesem »turn« tatsächlich neu sei, da Charles Taylor, auf den der Vf. sich insoweit bezieht, ihn zwar für neu erkläre, sich aber andererseits auf Marx, Durkheim und Max Weber beziehe; 5. folge aus dem »subjective turn« nicht eine Abkehr von der Gesellschaft und damit von der Soziologie, vielmehr erfordere er ein interdisziplinäres Herangehen an die Sache unter Einbeziehung sowohl der Soziologie als auch einer Reihe anderer Wissenschaften; 6. schließlich müsse bedacht werden, dass der Begriff lediglich ein Etikett für eine Menge zwar untereinander in Beziehung stehender, aber verschiedener Entwicklungen sei.
Der Vf. verarbeitet eine beeindruckende Menge vor allem religionssoziologischer, aber auch kirchenrechtlicher Literatur. Die Verwertung dieser Angaben wird dem Leser allerdings dadurch erheblich erschwert, dass der Vf. bei Mehrfachzitaten unter Kurzbezeichnungen auf Hinweise auf das Erstzitat mit den vollständigen bibliographischen Angaben ebenso verzichtet hat wie auf ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis. Dies macht die Suche nach diesen Angaben in den – dazu winzig gedruckten – Fußnoten recht mühsam. Ein – in der englischen juristischen Fachliteratur weithin übliches – Verzeichnis der behandelten Rechtsfälle hätte überdies leichter erkennen lassen, inwieweit der Vf. auch nichtenglische Rechtspraxis berücksichtigt hat. Leider hat er auch hierauf verzichtet. Hiervon sollte aber auch der deutsche Leser sich nicht abschrecken lassen. Der Vf. erörtert zwar hauptsächlich Zu­stände und Entwicklungen in England und Wales; seine höchst bedenkenswerten Ausführungen können aber auch bei der Bearbeitung der Entwicklung in Deutschland wertvolle Anregungen bieten.