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Ausgabe:

Dezember/2015

Spalte:

1449–1450

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Heinig, Hans Michael, u. Christian Walter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionsverfassungsrechtliche Spannungsfelder.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2015. VII, 314 S. Kart. EUR 74,00. ISBN 978-3-16-153794-3.

Rezensent:

Norbert Janz

Cuius regio, eius religio – dieses im Augsburger Religionsfrieden niedergelegte Rechtsprinzip ist nicht zuletzt Ausdruck eines massiven Spannungsfeldes zwischen Staat und Gesellschaft, Religion und Politik sowie Institution und Individuum. Es ist eine Binsenweisheit, dass das Religionsrecht von solchen tiefen Spannungsfeldern durchzogen ist, die seit Jahrhunderten ein großes Konfliktpotential in sich tragen. Weitere Kontrastbeziehungen finden sich zwischen nationalem, europäischem und internationalem Recht, zwischen Genese und Funktion, zwischen Freiheit und Gleichheit, zwischen Gemeinwohl und legitimem Eigensinn, zwischen Säkularität, Religiosität und Konfessionalität.
Der anzuzeigende Sammelband hat sich zum Ziel gesetzt, diese Spannungsfelder aus der Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen zu vermessen und dadurch zu einem vertieften Verständnis des Religionsverfassungsrechts beizutragen. Er beruht auf einer Tagung im Februar 2013, die den Polaritäten dieses Rechtsgebietes gewidmet war. Es finden sich 16 Beiträge zu sieben Themenkomplexen aus der Rechtswissenschaft, Theologie, Soziologie, Religionswissenschaft und Politikwissenschaft. Als Herausgeber fungieren zwei der profiliertesten deutschen Staatskirchenrechtler: Heinig lehrt in Göttingen und ist zugleich Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, Walter hat einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der LMU München inne.
Gleich zu Beginn diskutiert der Berliner Staatsrechtler Möllers instruktiv die »Grenzen der Ausdifferenzierung: Zum Zusammenhang von Religion und Politik im demokratischen Rechtsstaat«. Er weist auf sowohl intellektuell wie sprachlich eindrucksvollem Niveau nach, dass Religion zu einem Bestandteil demokratischer Willensbildung werden kann. Ob dies dem Gemeinwohl letztlich weiterhilft, sei offen. Der Münsteraner Religionssoziologe Pollack referiert sachkundig über Religion und soziale Integration in Deutschland. Religion, insbesondere in ihrer christlichen Variante, trage in Deutschland maßgeblich zum Aufbau sozialen Kapitals bei. Religion sei aber bei Weitem nicht das einzige integrative Instrument, so dass die zunehmende Entchristianisierung nicht zwingend die soziale Integration bedrohe. Mit besonderem Interesse studierte der Rezensent die Ausführungen der Münchener Politologen Poetke und Fischer zur religionspolitischen Autoritätssymbiose in der Verteidigungspolitik der frühen Bundesrepublik. Die beiden großen Kirchen hätten sich nach Inkrafttreten des Grundgesetzes 1949 religionspolitisch neu ordnen müssen. Sie seien dann aktiv an der staatsbürgerlichen Bildungsarbeit beteiligt gewesen. Mit ihrer Militärseelsorge festigten sie die demokratischen Strukturen in den neuen deutschen Streitkräften. Diese Einbindung habe nicht nur eine Offenheit für die freiheitlich-demokratische Grundordnung vorausgesetzt, sondern sei auch der politischen Liberalisierung der Kirchen überaus dienlich gewesen, was die im Titel postulierte Autoritätssymbiose deutlich mache. Das Schlusswort gebührt Stolleis als Grandseigneur der deutschen Verfassungsgeschichte. Der mit elf Seiten kürzeste Beitrag »Konfessionalität versus Säkularität im deutschen Staatsrecht« skizziert zunächst im flotten Parforceritt die Entwicklung des Verhältnisses der beiden christlichen Volkskirchen zueinander. Sodann werden katholische und evangelische Staatsrechtslehrer in ihrem jeweiligen Staatsverständnis unterschieden. Auch heute sei diese konfessionelle Dichotomie nicht »verschwunden«. Vielmehr seien die Spuren der Trennung »tief eingekerbt« und schafften jenseits der Selbstverständlichkeiten Raum für konfessionell geprägte Interpretation. Beispiele für diese Lagerbildung bleibt Stolleis indes weitgehend schuldig. Ob die Haltung zu Europa – integrationsge neigt oder -skeptisch – wirklich als Differenzierungskriterium taugt, erscheint zweifelhaft.
Fazit: Der Sammelband bietet viel Lesenswertes zu bi- sowie multipolar geprägten religionsrechtlichen Spannungsfeldern, und zwar mit einem transdisziplinären Ansatz, wie man ihn sonst kaum findet.